Blutsauger
Jungkriminalist zu berichten wusste, passte zu Häberles Theorie, die inzwischen deutlich Konturen angenommen hatte.
Und plötzlich beschlich ihn das ungute Gefühl, womöglich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein. Er musste unbedingt mit der Sonderkommission telefonieren, am besten mit Linkohr, der mit seiner schnellen Auffassungsgabe in der Lage sein würde, sofort richtig zu reagieren. Es durfte keine Zeit mehr verloren werden.
Frenzel hatte das Licht im Treppenhaus gelöscht und im Ausstellungsraum die kleine Notbeleuchtung angeknipst. Es war viel zu schwach, um durch die große Fensterfront des Eingangsbereichs den verschneiten Vorplatz im Freien zu erhellen. Frenzels Blick ging in das tiefe Schwarz der Nacht hinaus. Die dicken Schneeflocken, die der Wind gegen die Scheiben wirbelte, wo das diffuse Innenlicht sie erfassen konnte, ließen vermuten, dass ein Wintersturm ums Haus tobte.
Der junge Mann sah diesem winterlichen Schauspiel einige Sekunden lang zu, während ihn seine innere Stimme erneut warnte: Du stehst hier im Licht und jeder, der in dieser finstren Nacht da draußen auf dich lauert, kann dich sehen.
Ich lass mich nicht verrückt machen, sagte seine Vernunft. Wer sollte schon wissen, dass ich hier oben bin? Außer Wohnhaupt keiner. Oder doch? Dass er hier oben forschte, war in der Klinik kein Geheimnis. Und jene, denen er es nie gesagt hatte, wussten es womöglich längst von anderen. Dass sich ein Medizinstudent für blutsaugende Insekten interessierte, kam schließlich nicht alle Tage vor.
Er blieb bewegungslos stehen, um das chaotische Spiel der Schneeflocken zu beobachten, während er gleichzeitig gewahrte, dass sich in den Fensterscheiben der Innenraum schemenhaft spiegelte. Diese Nacht, das war zu befürchten, würde ziemlich unruhig werden. Der Wind heulte in Böen ums Haus und ließ alles, was draußen auf der Baustelle nicht niet- und nagelfest war, durch die Lüfte segeln und flattern. Frenzel lauschte angespannt und versuchte, jedes Scheppern, Krachen oder Schlagen einem Gegenstand zuzuordnen – dem Gerüst, einer Leiter, einer Plane, einem lockeren Metallteil.
Noch während er, am Tresen des Informationsbereiches stehend, gedankenversunken zu den Schneeflocken starrte, erweckte etwas die Aufmerksamkeit seines Unterbewusstseins. Eine Bewegung im Spiegelbild der Fensterscheibe – etwas, das nicht zum abgebildeten Innenraum passte. Frenzel stockte der Atem. War es eine gespiegelte Bewegung von ihm selbst gewesen? Aber er hatte sich überhaupt nicht gerührt. Ein Tier also? Vielleicht ein Fuchs, ein Wildschwein, ein Reh?
Frenzel wagte kaum noch zu atmen. Er musste weg. Raus aus dem Ausstellungsraum, hinüber in den Bürotrakt. Möglichst hinauf ins Obergeschoss. Zurückziehen. Eine halbe Minute blieb er stehen, als sei er gar nicht mehr in der Lage, sich zu rühren. Er fühlte sich, als habe ihm irgendetwas die ganze Energie geraubt und sie gegen Panik- und Angstgefühle ausgetauscht.
Er entfernte sich mit seitlichen Schritten von dem Informationstresen, um sich wieder dem Treppenhaus zu nähern – ganz langsam, als wolle er vermeiden, dass hastige Bewegungen die Aufmerksamkeit eines Beobachters auf ihn lenken könnten. Alle Vorsicht war sinnlos, falls ihn bereits jemand von außen ins Visier genommen hatte – doch daran wollte er nicht denken. Es ging ihm um Flucht, um eine schnelle Flucht. Nichts wie weg. Unbemerkt. Allerdings waren es eher Bewegungen im Zeitlupentempo, mit denen er weiterging und dabei nach dem Lichtschalter für das Notlicht fingerte. Er bekam ihn zu fassen und drückte ihn. Sofort war der Ausstellungsraum in absolute Finsternis gehüllt. Frenzel zog sich tastend bis ins schützende Treppenhaus zurück und ging hinter dem Mauervorsprung in Deckung, an dem der Rahmen der offen stehenden Tür befestigt war. Es war für den jungen Mann kein Problem, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, schließlich fühlte er sich hier fast wie zu Hause.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und die Fenster sich als grauschwarze Rechtecke von der rabenschwarzen Umgebung abhoben.
Wieder traf eine Böe das Haus. Draußen kullerte offenbar ein leerer Plastikeimer über ein Gerüstbrett. Im Haus knackte Holz – und plötzlich spürte Frenzel einen leichten Luftzug, den er bis jetzt nicht wahrgenommen hatte. Er klammerte sich an den Türrahmen und löste seinen Blick von den Fenstern, die ihm wie zaghaft
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