Blutsauger
Angst vor einem zweitklassigen Serum war jedenfalls größer gewesen als die Sorge, an Schweinegrippe zu erkranken. Brugger zweifelte wie so oft auch in diesem Moment an der Vernunft und Intelligenz der politisch Verantwortlichen, die zweierlei Impfstoff eingekauft hatten – den einen für die Elite, den anderen fürs Volk. Wie bescheuert mussten jene gewesen sein, die dies angeordnet hatten?, grübelte Brugger. Aber wahrscheinlich waren die Verantwortlichen für dieses Impfdesaster längst per Beförderung in höhere Positionen gehievt worden, wo sie wesentlich mehr verdienten und weniger Unheil anrichten konnten. Ein weit verbreitetes Vorgehen in dieser Republik. Deshalb waren, so Bruggers tiefste Überzeugung, überall im Lande die verantwortlichen Stellen von Versagern besetzt. Ein Glück, dass es noch einige wenige Ausnahmen gab, musste er sich eingestehen. Die Klinik daheim war so ein positives Beispiel – oder mancher Betrieb, der die Finanzkrise mit einem blauen Auge überstanden hatte. Dort jedoch, wo die Nullingers und Fieslingers das Steuer in der Hand hielten und sich sogar noch gegenseitig die faulen Eier zuwarfen – in der Meinung, damit angeben zu können –, hatte jener Ungeist ins Unternehmen Einzug gehalten, wie er inzwischen überall kursierte. Und wo sich dieses negative Virus eingenistet hatte, griff es weiter um sich. Die Nullingers und Fieslingers scharten immer mehr Dumm- und Schwachköpfe um sich, die der irrigen Meinung unterlagen, das sinkende Schiff als Sklaventreiber wieder auf Kurs zu bringen, ohne zu merken, dass es nicht am fehlenden Antrieb mangelte, sondern am Auftrieb – an beflügelnder Motivation, die allerdings dem schneller drehenden Strudel des Untergangs nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Brugger hätte nicht sagen können, wie lange er so dastand und in die Nacht hinausstarrte. Ein Blick auf die rote Digitaluhr am Pool rief ihm ins Gedächtnis, dass es 23 Minuten waren. Denn inzwischen war es 4.07 Uhr. In zwei Stunden würde drunten auf der Terrasse bereits das Frühstücksgeschirr klappern.
Und für ihn würde es bis Montagnachmittag noch viel zu tun geben. Insbesondere musste er sich diesen Fernandez vorknöpfen, von dem er endlich Klarheit über die Rendite aus der Beteiligung an einer größeren Ferienhaus-Immobilie haben wollte. 250.000 Euro hatte er vorletztes Jahr investiert, doch nun drohte die Finanzkrise, das Anlageobjekt in erhebliche Schieflage zu bringen. Inzwischen beunruhigte ihn das, was Maronn berichtet und Bruni angedeutet hatte, weitaus mehr als der mögliche Verlust dieses Geldes, das aus einer größeren Erbschaft stammte und das er in Maspalomas dem spanischen Immobilien-Manager bar übergeben hatte. Eine windige Sache, wie es ihm jetzt erschien. Das Geschäft war zwar notariell besiegelt und von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens geprüft worden, nur wenn das Immobilienprojekt hopsging, hatte er keinerlei Handhabe, das Geld einzuklagen. Dies würde er auch tunlichst vermeiden wollen, zumal er geschickt die deutsche Erbschaftssteuer umgangen hatte. Wenn Fernandez nicht der seriöse Geschäftsmann war, für den er ihn bisher gehalten hatte, dann konnte dies den Totalverlust des Geldes bedeuten. Möglicherweise war Fernandez ein gerissener Ganove, der es auf geschickte Weise verstand, sich mit jeder Menge Schwarzgeld zu bereichern. Denn kein einziger der Geldgeber, denen er geradezu traumhafte Renditen versprochen hatte, konnte daran interessiert sein, einen Skandal vom Zaun zu brechen und damit ins Visier der Steuerbehörden zu geraten.
Brugger wurde plötzlich bewusst, auf welch dünnem Eis er sich bewegte. Sein Pulsschlag beschleunigte sich. Er hatte das Gefühl, an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen zu müssen. Die Freude auf den morgigen Damenbesuch aus Deutschland wurde erheblich gedämpft. Insgeheim wünschte er sich, dies nie eingefädelt zu haben.
15
Salbaisi versorgte die blutige Lippe eines jungen Mannes, der mit seiner tief sitzenden Jeans und der dicken Joggingjacke besonders cool wirken wollte. Wie seine Altersgenossen trug er seine Baseballmütze mit dem Schild nach hinten. Salbaisi verkniff sich eine Bemerkung und fragte auch nicht, woher die Verletzung stammte. Niemals würde so ein Kerl zugeben, ›eine zentriert‹ bekommen zu haben, wie man einen Faustschlag ins Gesicht im Jugendjargon heutzutage bezeichnete. Vermutlich wäre als Antwort gekommen, er sei versehentlich gegen einen Türrahmen gerannt. Der
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