Blutsauger
Ambulanzarzt sorgte sich in diesem Augenblick ohnehin um jemand anderen – nämlich um Anja, die seit über einer Dreiviertelstunde nicht mehr aus dem Röntgenraum aufgetaucht war. Außerdem hatte sich die Dame mit dem adligen Namen nicht mehr zurückgemeldet.
Brigitte hatte deshalb nach dem Rechten sehen wollen. Noch während Salbaisi die aufgeplatzte Lippe säuberte und der junge Mann sichtlich mit Schmerzen kämpfte, hallte vor dem Zimmer eine Frauenstimme durch den Flur: »Herr Doktor – bitte kommen Sie schnell!« Und gleich noch viel lauter: »Herr Doktor!«
Salbaisi zögerte keine Sekunde. »Entschuldigung«, murmelte er dem Patienten zu, legte den Wattetupfer in eine Schale und eilte zur Tür, die in Richtung Röntgenbereich führte. Er stieß sie auf und traf auf Brigitte, die ihn kreidebleich anstarrte.
»Sie ist tot«, flüsterte sie, als wolle sie das Entsetzliche gar nicht sagen. »Anja – sie ist tot.« Brigitte deutete auf eine zehn Meter entfernte Tür, die weit offen stand. »Da …«
Manfred Watzlaff war ein besonnener Mann Mitte 50 und seit mehreren Jahren Leiter des Polizeireviers in diesem beschaulichen Städtchen am Nordrand der Schwäbischen Alb, eine gute Autostunde von Stuttgart entfernt. Doch die geografische Entfernung zu den großen Zentren durfte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in Zeiten globaler Vernetzung das internationale Verbrechen auch in den Provinzstädtchen eingenistet hatte. Oft genug waren Straftäter im ländlichen Idyll untergetaucht, wo sie weniger Polizeipräsenz vermuteten als in den Ballungsräumen. Doch auch die tägliche Kleinarbeit bescherte den Streifendienstbeamten genügend Arbeit, die sich in nichts von den Aufgaben anderer Reviere unterschied: Verkehrsunfälle, Prügeleien, Beleidigungen, Ruhestörungen. Wenn Watzlaff darauf angesprochen wurde, konnte er aus einem reichhaltigen Erfahrungsschatz berichten und darüber klagen, wie sehr die Polizei in den vergangenen Jahrzehnten an Autorität in der Bevölkerung eingebüßt hatte. Es gab inzwischen viele Jugendliche, die nie gelernt hatten, die wahren Werte einer Gesellschaft zu achten. Aber auch Erwachsene, so wusste Watzlaff zu klagen, trugen mittlerweile zur allgemeinen Verrohung bei. Besonders ärgerte ihn, dass die Verantwortlichen im öffentlichen Leben diese Probleme schönredeten und nicht wahrhaben wollten, wie es draußen auf der Straße in der polizeilichen Praxis aussah.
An diesem unwirtlichen Februarsonntag war Watzlaff, wie er dies häufig tat, zu den am Wochenende diensthabenden Beamten ins Revier gekommen. Er unternahm häufig solche Besuche – aber nicht, um den Vorgesetzten zu markieren, sondern um an den Widrigkeiten solcher Faschingstage teilzuhaben. Davon ließ er sich auch an diesem Sonntag nicht abhalten, obwohl er am Vorabend die Prunksitzung eines vorörtlichen Narrenvereins besucht und er nur fünf Stunden geschlafen hatte.
Bereits beim Betreten der Wache war er vom Dienstgruppenführer auf die Unfallflucht der vergangenen Nacht hingewiesen worden. Diese Angelegenheit werde bereits von der speziellen Ermittlungsgruppe der Direktion aus dem nahen Göppingen bearbeitet.
Watzlaff, zwar sportlich, dennoch nicht gerade von schlankem Körperbau, konnte eine erstaunliche Behändigkeit an den Tag legen. Er eilte die Treppen zum Büro besagter Kollegen hoch, begrüßte sie mit Handschlag und einigen persönlichen Bemerkungen. Anschließend setzte er sich zur Runde der drei Uniformträger und strich nachdenklich über seinen Oberlippenbart. Während er sich den mutmaßlichen Unfallhergang erklären ließ, nahm sein Gesicht einen finsteren Zug an. Die buschigen Augenbrauen verstärkten diesen Eindruck.
»Aber er wird überleben?«, fragte er, nachdem die drei ihre Erkenntnisse aus Unfallspuren und Protokollen zusammengefasst hatten.
Einer der Männer zuckte mit den Schultern. »Akute Lebensgefahr, sagt der Arzt. Er will sich nicht festlegen.«
»Und tatsächlich keine Zeugen?« Watzlaff verschränkte die Arme vor der voluminösen uniformierten Brust.
»Nichts«, antwortete der Jüngste in der Runde, dessen Rangabzeichen ihn als Polizeihauptmeister auswiesen. »Es war kurz nach eins. Kein Mensch auf der Straße. Es ist aber davon auszugehen, dass der Autofahrer, der angerufen hat, nur wenig später dort vorbeigekommen ist.«
Die drei Uniformierten nahmen an, dass das Opfer, ein 43-jähriger Doktor der Medizin, auf dem Weg vom Nachtdienst zu seinem Auto gewesen war. Zum
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