Blutsauger
nicht anmerken zu lassen, das sich ihrer bemächtigt hatte, verschwand Stuhler wieder auf dem Flur. Dort ließ er sich von dem nächtlichen Bereitschaftsarzt Dr. Volker Moschin Einzelheiten über das Auffinden von Anjas Leiche erläutern. Wortlos betraten sie den Röntgenbereich und blieben für ein paar Sekunden regungslos vor der toten Frau stehen. Sie lag mit ihrer weißen Dienstkleidung in leicht seitlicher Haltung auf der Untersuchungsliege, über der die schwenkbare Röntgenapparatur wie ein gefährliches Raubtier schwebte. Die Arme waren vom Körper abgewinkelt, ein Bein ragte über den seitlichen Rand der Liege hinaus und hing ab dem Kniegelenk in der Luft. Die Augen der Toten waren geschlossen, ihr Gesicht bläulich verfärbt. Ihre halblangen blonden Haare wirkten etwas ungeordnet, doch die Kleidung schien korrekt zu sein. Ihre Position, so überlegte Stuhler, konnte darauf hindeuten, dass sie sich vor ihrem Tod setzen oder hinlegen wollte, möglicherweise aus Erschöpfung oder weil sie von Schmerzen geplagt war.
»Ein Patient war nicht dabei?«, fragte Stuhler sachlich, räusperte sich und kämpfte gegen seine innere Betroffenheit.
Moschin schüttelte bedächtig den Kopf. »Kollege Salbaisi und Schwester Brigitte ist nur aufgefallen, dass es mit den Röntgenpatienten nicht vorangegangen ist.«
Stuhler nickte. Der Ambulanzarzt hatte es ihm bereits am Telefon berichtet und auch geschildert, was vor wenigen Stunden mit Fallheimer geschehen war. Er war ein Mann des scharfen und schnellen Denkens, ein Mann mit unglaublich rascher Auffassungsgabe und hellwachem Verstand. »Wurde etwas verändert?« Er sah sich um, ohne etwas Außergewöhnliches zu entdecken. Im strahlengeschützten Nebenraum leuchteten Computer und Kontrollleuchten.
»Soweit ich weiß, hat niemand etwas angefasst«, erwiderte Moschin. Seine Augen waren gerötet, seine Hautfarbe blass. Die Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen.
»Da soll es einen Zwischenfall mit einer Patientin gegeben haben …«, kam Stuhler auf eine Bemerkung Salbaisis zurück.
»Hat er mir auch geschildert. Eine Frau soll sich nach dem Röntgen nicht mehr bei ihm gemeldet haben.«
Stuhler überlegte kurz und fragte: »Hat inzwischen schon jemand die Polizei verständigt?«
»Polizei?«, gab sich Moschin gereizt. »Wozu denn Polizei? Das sieht alles nach einem astreinen Herzversagen aus. Sie ist blau im Gesicht. Herzstillstand.« Er trat einen Schritt näher an die Leiche heran. »Keinerlei Fremdeinwirkung erkennbar, die Kleidung in Ordnung. Ihr ist schlecht geworden, sie hat sich hinlegen wollen – und dann hat sie der Herztod ereilt.«
Stuhlers Blick wanderte von seinem Kollegen zu der Toten. »Gestatten Sie die Bemerkung, Herr Moschin, aber in Anbetracht all der Umstände wollte ich nicht guten Gewissens einen natürlichen Tod attestieren. Könnten Sie das?«
Moschin zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob es dieser Todesfall erfordert, die Klinik durch Gerüchte in Misskredit zu bringen.«
»Entschuldigen Sie, Herr Kollege«, entgegnete Stuhler entschlossen. »Ich vermag nicht nachzuvollziehen, weshalb uns der natürliche Tod einer Angestellten in Misskredit bringen sollte. Das Gegenteil wäre der Fall, würden wir versuchen, hier etwas zu verschleiern. Denken Sie an die Angehörigen der Frau Kastel. Ich hege meine Zweifel, ob die sich damit zufriedengäben – vor allem, wenn die Gerüchteküche, wie Sie richtig vermuten, erst mal zu kochen beginnt. Und ich denke, wir sind es all unseren Mitarbeitern schuldig, dass es keinerlei Grund für Spekulationen gibt.«
Für einen Moment machte sich eine Stille breit, die Stuhler an eine Leichenhalle erinnerte. »Glauben Sie mir«, meinte er schließlich beinahe väterlich, »offensives Vorgehen ist in jeder Situation das Beste.« Stuhler drehte sich um, verließ den Röntgenraum und Moschin folgte wortlos. »Diese Frau, von der da die Rede ist«, hakte der medizinische Klinik-Chef auf dem Flur nach, »… gibt es von ihr Aufnahmedaten?«
»Gibt es«, bestätigte Moschin, während sie in Richtung Salbaisis Untersuchungsraum gingen. »Aber das erscheint mir in der Tat etwas merkwürdig zu sein.« Er blieb stehen, um seinem Chef direkt ins Gesicht sehen zu können. »Diese Patientin hatte keinerlei Papiere dabei, hat einen Namen angegeben – einen adligen übrigens – und eine Wohnadresse in Ulm. Sie sei privat versichert.«
Stuhlers kantige Gesichtszüge versteinerten sich. »Und was wissen wir sonst
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