Blutsauger
Überqueren der Heidenheimer Straße habe er nicht den Zebrastreifen benutzt, sondern sei etwa 50 Meter davon entfernt auf die Fahrbahn getreten. Dies lasse darauf schließen, dass er die Straße nicht auf dem kürzesten Weg, sondern schräg hinüber zur Parkplatzzufahrt habe queren wollen. Den festgestellten Verletzungen zufolge sei das Fahrzeug von hinten gegen seinen Körper geprallt.
»Und es gibt nichts, was zurückgeblieben ist? Stoßstange, Lackspuren, Glassplitter?« Watzlaff gab sich ungeduldig, obwohl dies gar nicht seine Art war.
»Bisher nichts«, gab wieder der Jüngste die Antwort, als ob er seine Bedeutung hervorheben müsste. »Es wird auch nichts mehr zu finden sein, denke ich.«
Watzlaff entschied, den Pressesprecher der Polizeidirektion Göppingen zu bitten, möglichst bald die Medien von der Unfallflucht zu unterrichten und einen Zeugenaufruf zu veröffentlichen. Vielleicht gab es jemanden, dem ein Auto aufgefallen war, das im vorderen Bereich zumindest einige Dellen aufwies.
»Dieser Doktor …«, Watzlaff stockte, denn ihm war der Name entfallen.
»Fallheimer«, ergänzte der Beamte links von ihm, der bisher geschwiegen hatte. »Johannes Fallheimer. So steht’s in seinen Papieren, die er bei sich getragen hat. Wohnhaft in Scharenstetten. Kleines Nest auf der Alb.«
Der Revierleiter nickte dankend. »Und der ist in der Klinik beschäftigt?«
»Ja«, fühlte sich der Jüngste wieder zu einer schnellen Antwort angespornt. »Gynäkologie. Oberarzt. Lebt von seiner Frau getrennt. Die Kollegen sind gerade dabei, Angehörige ausfindig zu machen.«
Watzlaff ließ ein paar Sekunden des Nachdenkens verstreichen. Das waren jene Augenblicke, mit denen er auch in hektische Gesprächsrunden die gebotene Ruhe bringen konnte. Wer ihn dann so sitzen sah, nicht gerade groß gewachsen, aber von bärenstarker Gestalt, würde in ihm nicht auf Anhieb einen Sportler vermuten. Und doch nutzte er selbst bei schlechtester Witterung jede freie Minute, um mit dem Fahrrad weite Strecken zurückzulegen, vor allem, um Steigungen zu bewältigen, von denen es rings um diese Stadt Geislingen genügend gab, führte sie schließlich den Zusatz ›an der Steige‹ sogar im Ortsnamen. Für einen Moment versuchte er, sich zu entsinnen, wie viele folgenschwere Unfallfluchten in den vergangenen Jahren ungeklärt geblieben waren. Nur wenige, antwortete ihm sein Gedächtnis. Zwar machte sich bei etwa einem Drittel aller registrierten Unfälle der Verursacher aus dem Staub, doch handelte es sich dabei meist um Parkrempler oder abgerissene Rückspiegel – um kleinere Blechschäden eben. Hingegen konnten Unfallfluchten mit Verletzten oder gar Toten meist alle aufgeklärt werden. Und Watzlaff hatte keinen Zweifel, dass dies auch jetzt so sein würde.
»Was mich verwundert«, sagte er schließlich, »das sind die Umstände. Stockfinstre Nacht, Regen. Kein Mensch draußen, so gut wie kein Verkehr. Und dann marschiert dieser Doktor einsam und allein über die Straße und wird von einem der wenigen Autos überfahren, die unterwegs sind.«
»Ein Betrunkener vielleicht«, meinte der junge Hauptmeister. »Sichtverhältnisse schlecht. Der Fußgänger trug einen dunklen Stoffmantel. Das sind denkbar schlechte Bedingungen.«
Watzlaff strich sich wieder über seinen Bart. »Trotzdem. Mir kommt das Zusammentreffen einer einzelnen Person mit einem der wenigen Autos ein bisschen merkwürdig vor.«
Die drei Ermittler sahen ihren Chef verwundert an. Bisher gab es nicht die geringsten Hinweise auf etwas anderes als einen Unfall. Watzlaff ließ die Kollegen allein und ging in sein Büro hinüber, um am Bildschirm die Vorkommnisberichte der vergangenen Nacht zu lesen: Ruhestörungen, kleinere Prügeleien, ein Wohnungseinbruch, ein ertappter Promillesünder – und natürlich die Unfallflucht. Der schrille Ton des Telefons riss ihn aus dem Studium dieser Meldungen. Er unterdrückte einen Fluch, weil er sonntags, wenn er keinen Dienst tat, keine Anrufe wünschte. Aber dieser, das stellte sich gleich heraus, war von dem Beamten in der Wache als derart wichtig erachtet worden, dass er ihn gleich zum Chef durchstellte.
16
Dr. Alexander Stuhler, Chefarzt der Inneren Medizin und gleichzeitig Ärztlicher Direktor des Krankenhauses, war von Salbaisi telefonisch vom Tod Anjas verständigt worden und sofort herbeigeeilt.
Während der Ambulanzarzt und Schwester Brigitte bei der Behandlung weiterer Patienten darauf bedacht waren, sich das Entsetzen
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