Blutsauger
eine neuerliche Obduktion erfolgt sei, bei der man sämtliche denkbaren und gerichtsmedizinisch relevanten Möglichkeiten eines Tötungsdelikts berücksichtigt habe. Dr. Kräuter, der längst aus einem großen persönlichen Erfahrungsschatz schöpfen konnte, hatte deshalb alle Register gezogen und sogar äußerst unwahrscheinliche Todesursachen in Erwägung gezogen.
Häberle las das Ergebnis schon zum zweiten Mal: Fallheimer sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keines natürlichen Todes gestorben. Hingegen lasse sich dies im Fall von Anja Kastel nicht eindeutig sagen.
Kräuter, der damit sein erstes Ergebnis revidieren musste, gab jedoch zu bedenken, dass es sehr schwierig sei, seine Schlussfolgerung beweiskräftig zu untermauern. Dazu bedürfe es einer ganzen Reihe weiterer Untersuchungen. Jedenfalls müsse davon ausgegangen werden, dass der oder die Täter über sehr gute medizinische Kenntnisse verfügt hätten.
Häberle musste unweigerlich an Chefarzt Stuhler denken – ohne sich erklären zu können, weshalb ausgerechnet an den. Es gab schließlich jede Menge weiterer Ärzte in der Klinik, ganz zu schweigen von dem Pflegepersonal. Und weshalb sollte nicht auch ein externer Arzt infrage kommen? Es gab schließlich Beleg-Ärzte, die kleinere Eingriffe selbst vornahmen. Und außerdem konnte unter den vielen Patienten, die in dieser Nacht die Ambulanz aufgesucht hatten, auch ein Arzt gewesen sein.
Kerstin Iridon hatte sich bereit erklärt, trotz der widrigen Straßenverhältnisse auf die Albhochfläche zu fahren. Sie wollte unbedingt jene Frau kennenlernen, die in der Samstagnacht in der Ambulanz war, als Anja Kastel starb. Dem Protokoll hatte die Polizistin entnehmen können, dass es sich um die 33-jährige Bibliothekarin Ute Fronzek handelte, die in Böhmenkirch wohnte – gerade mal zehn Kilometer entfernt. Ein kurzes Telefongespräch und einige Erklärungen genügten, um sich bei ihr anzumelden. Allerdings zeigte sich die Frau von Kerstins Anliegen ziemlich überrascht.
Die Polizistin hatte keine Mühe, die geschilderte Adresse in einem Neubaugebiet zu finden. Am Straßenrand türmten sich die Schneewände viel höher als drunten im klimatisch etwas milderen Talkessel von Geislingen.
Ute Fronzek öffnete bereits beim ersten Klingeln, begrüßte die Polizistin mit freundlicher Zurückhaltung und führte sie in ein wohltemperiertes, beheiztes Wohnzimmer, in dem das Feuer eines Kaminofens knisterte.
»Ich bin einigermaßen verwundert, dass Sie ausgerechnet zu mir kommen«, stellte Ute Fronzek fest und bot ihrer Besucherin einen Platz neben dem Ofen an.
Kerstin genoss die behagliche Wärme und legte die Beine übereinander.
»Kein Grund zur Beunruhigung. Ich hätt Sie das alles auch am Telefon fragen können, aber ich bevorzuge ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht«, lächelte sie und spürte Sympathie für die Frau, die eine selbstbewusste Herzlichkeit ausstrahlte. »Sie waren vergangenen Samstag in der Ambulanz. So jedenfalls haben wir es ermittelt. Was Sie dorthin geführt hat, unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht – und das interessiert mich auch nicht. Viel mehr ist von Bedeutung, was Sie dort gesehen und gehört haben.«
»Ich hab mir das seit Ihrem Anruf vorhin überlegt – aber da gibt es nichts, an das ich mich speziell entsinnen könnte.« Sie begann, an einem Trockengesteck herumzuzupfen, das auf dem ovalen Kieferntisch stand.
»Sie wurden von diesem Ambulanzarzt zum Röntgen geschickt«, konstatierte Kerstin.
»Ja, von Dr. Salbaisi – so heißt er, glaub ich. Dann bin ich raus und musste auf dem Flur warten.« Sie überlegte. »Da stehen ein paar Stühle rum. Macht nicht gerade einen sehr einladenden Eindruck.«
»Sie sitzen also dort und warten, bis Sie aufgerufen werden.«
»Ja, ich sitze da rum. Ich weiß nicht, ob Sie die Situation dort kennen.« Sie wartete, bis Kerstin mit dem Kopf schüttelte. »Diese Wartebereiche in der Ambulanz sind nur Flure, wenn man das genau nimmt. Sie hocken, wenn Sie kommen, in einer Art Flur – und dann vor dem Röntgen ebenfalls.«
»Aber dort waren Sie allein.«
»Ja, es hat geheißen, ich soll warten, bis ich aufgerufen werde.«
»Und aufgerufen hat Sie keiner?«
»Nein. Fragen Sie mich aber bitte nicht, wie lange ich da gesessen habe. Ich war müde, mir war übel und mein Fuß hat geschmerzt.«
»Waren es zehn Minuten, eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde?«
»Eher eine halbe Stunde, würd ich mal sagen.«
»Und da
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