Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
ihm kommen wollen. Draußen frohlockt Ludwig: „Der Preis is jut. Noch dreißig Pfennig über’n Listenpreis!“
Der zweite Händler macht größere Umstände, aber er nimmt endlich fünf Paar für drei Mark. „Auch nicht schlecht“, grinst Ludwig auf der Straße. Beim nächsten Händler ist „Papa grade bei’n Barbier“, und wieder ein anderer will Schandpreise zahlen. „Is nich, mein Herr“, zeigt Ludwig die kalte Schulter, „jute Ware, jutes Geld.“ In der Großen Hamburger Straße nimmt eine Händlerin den ganzen Rest. Dreizehn Paar. Zwölf Paar bezahlt, ein Paar geschenkt. Dreizehn, dreizehn Paar kauft sie nicht, das bringt nichts Gutes ins Haus. Aber auch die zwölf Paar bezahlt sie gut. Zwölf Mark. Die Jungens rollen die leeren Säcke zusammen und machen erst einmal, daß sie aus der gefährlichen Gegend kommen. Im Omnibus zählen sie ihre Einnahme: zweiundzwanzig Mark und fünfundzwanzig Pfennig! Dagegen die Ausgabe von acht Mark, bleibt ein Verdienst von vierzehn Mark und fünfundzwanzig Pfennig. „In einen Tag verdient, Willi. Reell verdient!“ Bei einem Glas Bier ruhen sie aus und bauen Luftschlösser. Dann aber geht es an die Arbeit. Die heutige Ernte dreier Stunden, zwölf Paar, muß hergerichtet werden.
Frau Bauerbach fragt nach der polizeilichen Anmeldung. Das läßt die gehobene Stimmung rapide sinken. Hatten sie wirklich einmal einen Tag vergessen, daßsie polizeilich gesuchte Fürsorgezöglinge sind? Sie kaufen die Anmeldeformulare, füllen sie mit aus der Luft gegriffenen Angaben aus, und Frau Bauerbach läßt die Formulare vom Hauswirt unterzeichnen. Daß die Brüder ihr den Weg zur Polizei abnehmen wollen, nimmt sie dankbar an. Ludwig und Willi gehen zur Polizei. Als sie nach einer Weile wiederkommen und „Anmeldung is besorgt, Frau Bauerbach!“ in die Küche rufen, sitzt ihnen die Angst in der Kehle. Wenn sie jetzt die unterstempelten Anmeldungen zeigen sollen, ist alles wieder aus. Dann können sie nur wieder zur Clique gehen. Aber Frau Bauerbach ist eine gläubige Seele. „Denn ist ja alles in Ordnung. Soll ich auch schon Kaffee aufbrühen?“ „Nee danke, noch nich, Frau Bauerbach“, antwortet Ludwig, und die Angst schlägt um in stille Freude. Schwein gehabt. Jetzt nur unauffällig leben und sich in acht nehmen, dann kann alles gut werden.
Die zwölf Paar Schuhe sind repariert und geputzt. Zum Abendbrot gönnen sie sich knackfrische Schrippen, Butter und gekochten Schinken. Auch ein paar Apfelsinen haben sie gekauft. In vierzehn Tagen ist Weihnachten. Weihnachten? Wo waren wir vor einem Jahr? Willi in der Anstalt. Ludwig muß lange nachdenken. Dann entsinnt er sich: konnte es auch anders sein? Halb verhungert, schon lange ohne Obdach. Wenn er im Tiergarten auf dem Strich zwei Mark verdient hatte, kam er sich reich vor. So reich, daß er einen Tag essen und eine Nacht auf einer Wanzenmatratze schlafen konnte. „Ach Willi, wenn wir doch bloß hier bei Mutter Bauerbach bleibenkönnten … wenn ich jetzt denk, zurück in die Clique … Nee, bloß nich zurück … bloß nich zurück!“ Sie gehen schlafen. Morgen ist die Kaiser-Friedrich-Straße an der Reihe. „Guten Tag. Wir zahlen bis zu zwei Mark …“ — —
Die Clique Blutsbrüder entwickelt sich mehr und mehr zu einer Bande von Berufsverbrechern. Kohldampf schieben? Is nich mehr! In Lumpen herumlaufen und ohne Bleibe? Ham wir nich nötig! Fred, der eigentliche Verführer und Einflüsterer, hat die Clique fest in der Hand. Heinz und Georg, die sich anfangs sträubten, wurden durch das viele Geld, mühelos verdient, geblendet und haben alle Bedenken über Bord geworfen. Ludwig und Willi, die doofen Hammel, haben sich ja scheinbar wieder mal schnappen lassen. Die ertragreichen Taschendiebstähle in Warenhäusern, auf Wochenmärkten und in den Markthallen setzen die Blutsbrüder fort.
Aber auch andere Gelegenheiten läßt die Clique sich nicht entgehen: Einbrüche, Autodiebstähle! Die Einbruchsbeute wandert stets zum Cliquenvater Gotthelf und geht von dort sukzessive zu den Hehlern. Gestohlene Autos fährt Fred, der einzige, der chauffieren kann, sofort nach dem Diebstahl in die Provinz. Dort sitzen Helfershelfer, die den Wagen umlackieren und ihn weiter verschieben. So ein gestohlener Wagen bringt immer seine drei- bis fünfhundert Mark, wenn er gut ist. Und an Krampfkisten macht Fred sich gar nicht erst heran. Zum Beispiel vorgestern: der Adlerwagen, den Fred vor einer Bar im Westen abhängte. Ein Wagen, der
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