Blutsbrüder
Jugendfreizeitheims wirken seine Augen rot, wie blutunterlaufen.
»Wahrscheinlich ein Stein«, sagt Darius, zu überrascht, um nachzudenken, »wahrscheinlich von denen da drüben.«
Geschmeidig wie eine Katze gleitet Harun, hinter ihm Tolga und drei andere, über den niedrigen Zaun, der das Gelände der Freizeiteinrichtung umgibt. Ohne sich abzusprechen, kreisen sie die Gruppe am Kanalufer ein, die beim Anblick der langhaarigen Gestalt mit nacktem Oberkörper wie gebannt ist, als sei sie mit dem struppigen Rasen verwachsen.
Darius folgt der Security, neben sich Alina, die unwillkürlich nach seiner Hand fasst. Etwas weiter hinten kommen auch Simon und Jan-Niklas, die, wohl durch den Joint, behäbiger wirken als sonst. Marvin, nun wieder der besorgte Freund, kümmert sich unterdessen um Cora.
»Hallo, Ömer«, sagt Harun, »wo ist denn dein großer Bruder?«
Erstaunt erkennt Darius den Jungen, der ihm ungewohnt kleinlaut vorkommt und der sich umblickt, als warte er sehnlichst auf das Erscheinen von Emre.
»Wer war das?«, fragt Tolga.
»Du?«, fragt Harun und zieht Ömer sacht am Ohr.
»Du«, stellt Tolga fest.
»Komm her«, sagt Harun. »Und mach die Augen zu.«
Der Junge gehorcht, erstaunlicherweise gehorcht er. Bereitwillig schließt er die Augen. Für die Länge eines Lidschlags wartet Harun. Dann schlägt er Ömer ohne erkennbaren Ansatz und mit großer Kraft links und rechts auf die Wange.
»Warum das mit den Augen?«, wird Darius später Hakan fragen, als er ihm von dem Vorfall erzählt.
»Weiß nicht«, wird Hakan antworten. »Demut vielleicht. Respekt. Oder, ich hab keine Ahnung, Verletzungsgefahr? Weil er mit offenen Augen weggezuckt wär oder so?«
»Darfst jetzt flennen«, sagt Tolga. »Aber verpiss dich, is’ besser.«
Die Jungen schweigen, rücken enger zusammen, ducken sich wie vor einer unsichtbaren Macht, weichen zaudernd vor Harun und vor Tolga zurück.
Verbissen unterdrückt Ömer die Tränen. Gerade als er sich abwenden will, steht Emre plötzlich neben ihm und legt ihm den Arm um die Schulter. Im selben Augenblick tauchen auch Simon und Jan-Niklas bei Darius und Alina am Kanalufer auf.
»Ist eigentlich unsere Sache.« Harun wendet sich unentschlossen an Darius, an Alina, dann auch an Simon und Jan-Niklas. Ihm ist das Unbehagen anzumerken, diejenigen, die ihn beauftragt haben, so zahlreich in seiner Nähe zu wissen.
»Ah«, sagt Emre, »die Deutschen haben dich gekauft?«
Geflissentlich übersieht er das Messer, das Tolga plötzlich in der Hand hält und mit einem feinen »Klick« aufspringen lässt, bis ihm Harun sanft in den Arm fällt.
»Lass ihn.« Harun packt Tolga jetzt grob an der Schulter. »Soll er doch ruhig reden wie ein beschissener Rassist.«
Emre ignoriert die Bemerkung. Stattdessen fixiert er Alina. Sie war gemeint, denkt Darius, Ömer hat sich geirrt.
»Niemand«, Emre betont jetzt jeden einzelnen Buchstaben und tritt dabei einen Schritt auf Alina zu, »niemand schlägt meinen Bruder. Und schon gar nicht eine scheiß deutsche Schlampe wie du.«
Alina zuckt zusammen.
Harun blickt sie an, seltsam ernst und dunkel, als erwarte er eine Anweisung, doch Alina schüttelt den Kopf.
Emre wendet sich ab und geht, den Arm nach wie vor tröstend um seinen kleinen Bruder gelegt. Rasch verschwinden beide in der Dunkelheit. Auch die Freunde von Ömer sind bald nicht mehr zu sehen.
Oje, denkt Darius, das ist noch lange nicht ausgestanden. Er fragt sich, was Ömer seinem großen Bruder erzählt hat.
Tolga lässt das Messer in der Tasche seiner Jeans verschwinden, er scheint den glimpflichen Ausgang des Streits beinahe zu bedauern. Hakan kommt aus dem Freizeitheim, aber auf seine Frage, was passiert sei, gibt ihm niemand eine Antwort. Harun und der Rest seiner Security schlendern unzufrieden zurück zu dem kleinen Spielplatz.
Alina schüttelt sich kurz, bevor sie zu Cora und Marvin ins Sanitätszimmer geht.
»Wir feiern weiter«, sagt sie entschieden, ehe sie, begleitet von Hakan, im Gebäude verschwindet. Kurz darauf sieht Darius die beiden unter einer Leuchtstoffröhre am Türsturz stehen. Als Alina zu reden beginnt, legt sie Hakan eine Hand beruhigend auf den Unterarm, um ihn daran zu hindern, sich umzudrehen und wieder nach draußen zu rennen, hinter Emre und Ömer her. Tomtom, der DJ, hat von dem Zwischenfall noch nichts mitbekommen.
Später stehen Jan-Niklas, Simon, Alina und Darius noch einmal nahe dem Kanalufer zusammen, umweht vom süßen Geruch des nächsten
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