Blutsbrüder
Zopf gebunden hat, und wendet sich an Darius, der längst darauf gewartet hat: »Und du?«
»Wir sind keine Gruppe mehr.«
Darius tritt mit dem Hacken nach einem zusammengebackenen Stück Erde und folgt den Brocken, die bis zur Friedhofsmauer fliegen, müde mit den Augen.
»Wir könnten wieder eine werden.« Hakan richtet seinen Zopf.
»Das ist schon möglich«, sagt Darius. »Aber wohl nicht mehr mit mir.«
Als er die wenigen Worte ausspricht, spürt er sein schlechtes Gewissen. Um Hakan nicht ansehen zu müssen, wendet er sich ab. Wegen des plötzlich drehenden Windes riecht er das verbrannte Kerosin einer Maschine, deren Turbinen leer laufen und das Summen der Fliegen vom Kompost übertönen.
»Das ist«, sagt Hakan leise, »das is t … sehr, sehr schade.«
Als Darius sich wieder zu Hakan umdreht, erkennt er, dass der Freund weniger enttäuscht als vielmehr bestürzt ist und dass er trotzdem wirkt, als habe er etwas Ähnliches erwartet. Unwillig zerrt sich Hakan das Gummi aus seinem Haar.
»Und was ist mit dir?«
Seine Stimme klingt klein. Kaum hörbar und ohne jemanden anzusehen formuliert er die Frage in Alinas Richtung.
»Meine Meinung kennst du«, sagt sie. »Ich muss dabei bloß an meine Schwester denke n …«
»Okay.« Schwer erhebt sich Hakan von seiner Bank. Trotzdem macht es den Eindruck, als sei er ein bisschen erleichtert. »Ich hab noch ein Treffen. Mit ein paar anderen. Kommt wer mit?«
»Ich nicht.« Alina windet sich. »Muss aufs Schwesterchen aufpassen. Der geht’s nicht so gut. Du weißt ja.«
»Hm.« Langsam hebt Hakan den Kopf, als bewege er ein enormes Gewicht, und blickt Darius in die Augen. »Würdest du, ich meine, noch mal mitkommen?«
Darius sieht, wie schwer es dem Freund fällt, ihn zu bitten. Deshalb sagt er entgegen seines Vorsatzes widerwillig: »Ja.«
Auf dem Weg zu dem Treffen, über das sich Hakan zunächst ausschweigt, fragt er Darius: »Wie kommst du zu deiner Entscheidung? Warum?«
»Ich seh darin wenig Sinn.«
Darius tritt mit dem linken Fuß nach einer leeren Colabüchse, mustert Hakan, denkt an den Grund für das Unbehagen, das ihn die letzten Tage begleitet, und nuschelt schließlich: »Aber das ist es nicht allein. Ich hab alles satt. Alles. Im Bus, da hab ich dem Jungen das Ohr verdreht. Tut weh, ich weiß. Mein Vater hat das früher mit mir gemacht. Du fühlst dich ohnmächtig, gedemütigt. Und ich will nicht werden wie mein Vater.«
Als ahne Hakan, dass Darius noch etwas hätte ergänzen wollen, verlangsamt er den Schritt, schlenzt die leere Dose elegant um einen Baum herum und kickt sie in den Rinnstein.
»Da seh ich keine Gefahr. Ich kenne deinen Vater zwar kaum. Aber bei mir ist es doch nicht anders. Weißt du ja. Und ich werd einen Teufel tun, meinem Vater zu ähneln. Du hast doch deinen Willen, oder? Wenn du etwas nicht willst, wird es dir nicht passieren.«
Darius hebt die leere Dose mit der rechten Fußspitze nachlässig zurück auf den Gehweg.
»Vielleicht«, sagt er leise, »aber vielleicht auch nicht.«
Und ehe er nach einem erneuten Zögern hinzufügen kann: ›Außerdem, Hakan, finde ich, dass du in letzter Zeit vieles auf die Spitze treibst, und zwar ohne Not‹, biegt Hakan unvermittelt in eine Tordurchfahrt ein und murmelt, während er einen Hof überquert: »Hier. Hier ist es, glaube ich.«
Bevor sie den Raum in einem ehemaligen Fabrikgebäude betreten, schärft Hakan Darius ein, dass allein er reden werde, weil diejenigen, die sie gleich träfen, nicht immer leicht zu behandeln seie n – »wie rohe Eier, verstehst du?«
Darius versteht nichts, aber er schweigt. Als Hakan die Stahltür zu dem Raum so vorsichtig aufschiebt, als handele es sich tatsächlich um etwas Zerbrechliches, ahnt Darius schon, dass das Treffen ungut enden wird.
Drei Personen mit Lederjacken sitzen, die Gesichter im Schatten, an einem bekritzelten und mit Tinte beklecksten Tisch, der den Schulpulten ähnelt, an denen Darius in der Grundschule manchmal unterrichtet worden ist. Die Wände des kleinen Raumes sind mit abwaschbarer weißgrauer Farbe gestrichen. Durch ein schmales Fenster fällt ein vereinzelter Sonnenstrahl, in dem der Staub der Jahre sacht zu tanzen scheint.
Als Hakan die Tür behutsam schließt, beugt sich die linke Lederjacke, die ein breites Stirnband für die schulterlangen Haare trägt, ein wenig vor und nuschelt: »Hallo, Hakan.«
Die mittlere Lederjacke, kahl geschorener Kopf, mächtige Springerstiefel, die unter dem Schulpult
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