Blutsbrüder
Hinterausgang.«
Er lacht.
Der Mann ist älter, als Darius erwartet hat: alt, findet er, über dreißig. Er lebt hier mit seiner Freundin und einem früheren Studienfreund, der jünger ist, aber selten da, weil er für einen Reiseveranstalter jobb t – »und dauernd in den ehrlich hinterletzten Ländern unterwegs ist«.
»Und damit«, sagt der Mann, dessen Tempo Darius verwirrt, und läuft vor ihm her in den vorderen Teil der Wohnung, »ja, damit nämlic h – möchtest du einen Tee oder Kaffee ? – wären wir auch schon bei unserem Problem.«
Darius, der den Kopf geschüttelt und fast lautlos »Lieber Cola« gemurmelt hat, rutscht das Herz in die Hose. Alles aus, denkt er, alles aus und vorbei.
Zumal ihn der quirlige Mann mit den leicht angegrauten Locken jetzt eingehender betrachtet, ihn beinahe misstrauisch mustert, als sehe er Darius zum ersten Mal.
Tatsächlich haben sie sich nur einmal in der Kneipe, in der Darius aushilft, kurz die Hand gegeben. Tomtom hat sie einander vor gut drei Wochen vorgestellt, hastig, weil der Mann, der Vermieter, noch etwas zu erledigen hatte. Und seither hat sich Darius vergeblich um ein Treffen mit dem Mann bemüht. Sodass er am Ende kaum noch Hoffnung hatte, es könne mit dem Zimmer klappen. Mit jedem Tag schien ihm die Wahrscheinlichkeit geringer zu werde n – und jeden Tag hat sich Darius gesagt: Doch, es klappt. Weil es klappen muss.
Nun geht ein Ruck durch den Mann, er sagt: »Gut, also Tee«, und nimmt eine zerbrechlich wirkende Kanne von einem Stövchen auf einem winzigen Tisch. Er gießt den Tee in zwei Tassen, die an ein Puppengeschirr erinnern. »Also gut«, wiederholt er, »Tomtom hat dich empfohlen.« Er trinkt einen Schluck, setzt die Tasse zurück auf die perlmuttfarbene Untertasse. »Ist eine Art Patensohn von mir. In gewisser Weise vertraue ich ihm blind. Das Problem: Meine Freundin und ich gehen für sechs Monate in die USA. San Francisco. Mindestens sechs Monate. Und der letzte Mohikaner, mein Kumpel, reist durch die Weltgeschichte. Und vor lauter Hektik hab ich das mit dir offenbar verpeilt. Dachte, wir hätten schon längs t …?«
Bedächtig gießt er Tee nach, bis die Flüssigkeit über den Tassenrand schwappt.
»Also: Du hütest die Wohnung. Gießt die Blumen. Katzen gibt’s nicht. Tiere mag ich nicht besonders. Die Miete, Strom, alles wird automatisch abgebucht. Was du zu zahlen hast, da waren wir uns einig, oder? Hier « – er deutet auf einen Ordner, der auf einem kleinen Tisch im Gemeinschaftszimmer lieg t – »hier steht alles Notwendige drin. So, jetzt muss ich los, meine Liebste abholen.« Er lacht. »Kommen und gehen, oh Mann!«
Wieder lacht er und schüttelt seine Locken. »Also, mein Lieber, heute Abend sind wir schon weg. War wirklich letzte Eisenbahn. Das da ist der Schlüssel.«
Der Schlüsselbund klirrt auf den Tisch. Der Mann zwinkert Darius zu, gibt ihm die Hand und verlässt die Wohnung. Als die Tür ins Schloss fällt, sinkt Darius erschöpft in einen Sessel und pustet das Teelicht unter dem Stövchen aus.
Zugleich ist er erfüllt von einem Glücksgefühl, dem er noch nicht trauen will. Lottogewinn? Ob Tomtom das wusste, als ich ihn, ohne große Hoffnung, damals gefragt habe, ob er vielleicht ein Zimmer oder so was in der Richtung wisse? Was hat er geantwortet? »Was heißt ’n: in der Richtung? Hundehütte? Klo?«
Darius stützt sich aus dem Sessel hoch und sieht sich um. Er öffnet ein Fenster zum Hof und schaut hinaus auf das gepflegte Grün, Rabatten, einige Bäume. Der Duft gemähten Rasens weht ins Zimmer. Das Knacken vertrockneter Blütenkapseln, als jemand sie auf dem Pflaster zwischen den Beeten zertritt.
Er schließt das Fenster. Nach vorn geht die Wohnung auf eine belebte Straße. Er macht ein paar Schritte in dem großen, wenig möblierten Gemeinschaftszimmer, behutsame Schritte, Tanzschritte, und beginnt sich zu drehen.
Es ist, als erfülle eine kaum hörbare Musik den Raum, Klänge, die nur er hört und zu denen er sich dreht, schneller und schneller. Bis er sich außer Atem und mit einem wohligen Schwindel auf den Parkettfußboden setzt. Ich habe gewonnen. Sonntagskind. Wirklich, ich lebe im Glück!
Okay, noch bin ich nicht achtzehn. Noch fehlen ein paar Tage. Noch muss ich vorsichtig sein.
Kein Wort zu meinem Vater. Kein Wort zu niemandem.
Nach weiteren fünf Minuten und einer letzten Tasse Tee erhebt er sich vom Fußboden und verlässt die Wohnung, noch erfüllt von dem Gefühl, etwas Ungeheures
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