Blutschnee
er hasst?«
Joes Steckschlüssel rutschte ab, und er knallte mit den Fingerknöcheln hart gegen den Motorblock. Er fluchte. »Ich weiß es nicht. Aber diese Frau macht mich nervös. Sie ist irgendwie … seltsam.«
»Also glaubst du ihm und hältst ihn für unschuldig? Genau wie er es behauptet?«
Joe fischte den Steckschlüssel aus dem Motor, streifte den Handschuh ab und inspizierte die aufgeschürften Knöchel. Seine bloßen Finger wurden in der Kälte sofort steif.
»Er ist entweder unschuldig oder ein ausgezeichneter Lügner«, gab er zurück.
»In einer Hinsicht hat er jedenfalls nicht gelogen«, sagte Marybeth und hob die Brauen. »Mary Longbrake hatte eine Affäre mit einem viel jüngeren Mann. Es könnte Nate gewesen sein.«
»Woher, zum Teufel …«, begann Joe, unterbrach sich und setzte neu an: »Woher weißt du das denn?«
»Aus der Bücherei.« Marybeth lächelte. »Einige Frauen dort haben früher jede Woche mit Mary Bridge gespielt. Ich schätze, da wird über alles Mögliche geredet. Offenbar hat sie ihnen sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ihr Leben sich durch diesen Mann zum Besseren verändert hat.«
12
Die Totenfeier für Lamar Gardiner fand bei geschlossenem Sarg am Silvestermorgen statt, während eine weitere dunkle Schneesturmfront bedrohlich von Nordwesten aufzog. Der Wind war eisig und unerbittlich. Der Gottesdienst wurde in einer Kapelle an der Hauptstraße von Saddlestring vor gut fünfzig Trauergästen abgehalten – ganz überwiegend Mitgliedern der Familie, Kollegen aus der Forstverwaltung und einheimischen Ordnungskräften.
Joe hatte mit Marybeth in der vorletzten Reihe Platz genommen. Er trug Jackett und Krawatte und hatte seinen Hut an einen Haken gehängt. Carrie Gardiner saß in Schwarz mit ihren beiden Kindern in der ersten Reihe. Gleich dahinter erkannte Joe Melinda Strickland, umgeben von Gardiners früheren Kollegen. Joe fiel auf, dass Stricklands Haar eine andere Farbe hatte als bei ihrer letzten Begegnung. Inzwischen war es goldbraun, fast blond. Sie trug die Uniform der Forstverwaltung. Sheriff Barnum und seine zwei Assistenten hatten eine ganze Reihe mit Beschlag belegt und sich jeweils einige Plätze voneinander entfernt niedergelassen. Hinter ihnen allen saß Elle Broxton-Howard mit ihrem Notizbuch auf dem Schoß.
Die Gewalt des Sturms ließ es während der Predigt des Pastors auf dem Dach klappern und scheppern. Kenneth Siman, der knochentrockene Bestatter und Leichenbeschauer des Bezirks, kam einmal in den vorderen Teil des Saals, vergewisserte sich mit einem Blick zur Decke, dass nichts beschädigt war, und zog sich leise wieder zurück.
Als der Pastor fertig war, trat Melinda Strickland aufs Podium und zog ein gefaltetes Stück Papier hervor. Ihr Auftreten war seltsam melodramatisch, und sie starrte allen Trauernden
reihum in die Augen, ehe sie mit ihrer Ansprache begann.
»Sie haben durch Pastor Robbins von Lamars Leben erfahren, und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass er nicht umsonst gestorben ist. Das ist klar wie Kloßbrühe.«
Klar wie Kloßbrühe? Joe spürte, wie Marybeth sich wand. Und wie sie sich erneut wand, als Strickland innehielt und sich ein strahlendes, ganz unangebrachtes Lächeln abrang.
Joe fröstelte und fragte sich, ob das an Strickland lag oder daran, was er von Romanowski über sie gehört hatte.
»Cassie«, wandte sich Strickland an Carrie Gardiner, »Ihr pflichtgetreuer Gatte wurde Opfer eines Krieges, den wir beenden müssen und werden. Wenn Bürger sich nämlich gegen die Regierung wenden, wird das nicht hingenommen.«
Joe versuchte, Stricklands Worte, ihre Gesten und ihr ganzes Verhalten mit Nervosität zu erklären. Auf jeden Fall machte sie Joe nervös. Und Marybeth schien in ihrem Stuhl versinken zu wollen.
»Der kleine Krieg, den einige Bürger gegen Beamte des Bundes führen, ist nämlich zu weit gegangen.« Sie schien Joe jetzt direkt anzusehen und nickte verschwörerisch.
»Eine Gruppe von Extremisten hat nämlich ein Lager auf Bundesland aufgeschlagen. Ist das nicht dreist?«
Sie redete noch fünf Minuten so weiter. Ihre Gedanken wirkten zufällig und unverbunden. Gerede, das nach einem Ende suchte. Joe achtete kaum darauf, doch er hörte Marybeth leise stöhnen.
Als Strickland endlich fertig war, ging sie auf Carrie und die Kinder zu und ergriff die Hände von Lamars Witwe.
»Ich bedauere Ihren Verlust, Cassie«, sagte sie.
Joe bemerkte, dass Elle Broxton-Howard sich wie wild Notizen machte. Als
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