Blutschnee
zugehört hat sie dir erst recht nicht. Sie hat dich nur dauernd taxiert.«
»Warum?«
»Um rauszufinden, ob du für ihr Ego nützlich bist – ob du mit ihren Ideen konform gehst und so ihrer Karriere dienst oder ob du eher eine Gefahr darstellst. Weißt du noch, dass du mir erzählt hast, sie sei in den Bergen fast umgekehrt? Vermutlich hat sie, als es hart zur Sache ging, gemerkt, dass
keiner im Team für das von Bedeutung war, worauf es ihr eigentlich ankommt. Sie hatte einen Haufen Hinterwäldler und die Kriminalpolizisten aus Cheyenne vor sich – alles Verlierer in ihren Augen. Die einzige Person, die für sie zählte, war die Journalistin, und die war ja bereits auf ihrer Seite. Die anderen bedeuteten ihr nichts. Sie setzt Menschen allein zu eigensüchtigen Zwecken ein – und sie ist gefährlich.«
»Das alles schließt du aus einer zweiminütigen Begegnung?«
»Ja.«
Marybeth wies mit dem Kopf auf Broxton-Howard, die inzwischen McLanahan und Reed in Beschlag genommen hatte.
»Sie sieht gut aus«, stellte sie ungerührt fest. »Es dauert Stunden, bis die Haare so lässig vom Wind zerzaust wirken.«
Joe schwieg weise.
Während Marybeth nach der Toilette suchte, gesellte Joe sich zu Bezirksstaatsanwalt Robey Hersig.
»Was haben Sie heute Abend vor, Joe?«
Er verdrehte innerlich die Augen. Seit Sheridans Geburt – seit elf Jahren also – sah ihr Silvesterplan stets gleich aus: Sie würden früh ins Bett gehen. Missy hatte sich nach Partys und Feiern in der Stadt erkundigt und angedeutet, sie wolle womöglich hinfahren. Joe hatte ihr angeboten, den Minivan zu nehmen, und sie hatte seinen Vorschlag naserümpfend akzeptiert.
»Haben Sie kurz Zeit?«, fragte Joe. Hersig nickte, winkte ihn in das Büro hinter sich, trat ein, setzte sich auf einen Schreibtisch und lockerte die Krawatte. Joe schloss leise die Tür. Das Büro hatte Gardiner gehört, doch nun hatte es offenkundig Melinda Strickland mit Beschlag belegt. Ein gerahmtes Foto ihres Cockerspaniels stand auf dem Tisch. Joe
hatte noch gar nicht erfahren, dass sie Gardiners Nachfolgerin geworden war.
Hersig stammte aus einer der ältesten Rancherfamilien des Twelve Sleep County und hatte nach einer Episode als Rodeoreiter an der Universität von Wyoming Jura studiert. Seine erste Amtszeit als Bezirksstaatsanwalt würde im nächsten Jahr enden, und es gab Spekulationen darüber, ob er sich erneut zur Wahl stellen würde. Obwohl er in seiner Arbeit äußerst vorsichtig war, hatte Hersig beeindruckend viele Verurteilungen vorzuweisen. Im letzten Sommer hatten sie beide entdeckt, dass sie Fliegenfischer waren, und sich in Hersigs flachem Boot den Twelve Sleep River hinuntertreiben lassen. Sie waren gut miteinander ausgekommen und hatten beschlossen, die Fahrt zu wiederholen. Das gemeinsame Angeln hatte eine besondere Verbindung zwischen ihnen gestiftet.
Joe hatte Hersig Anfang der Woche angerufen, um über April zu reden, doch der Empfang war wegen Sturmschäden völlig verrauscht gewesen.
»Wir wissen nicht, was wir wegen Jeannie Keeley tun sollen«, sagte Joe. »Können wir eine einstweilige Verfügung gegen sie erwirken?«
Hersig schüttelte den Kopf. »Joe, sie muss erst etwas unternehmen. Ihr Auftauchen allein reicht nicht. Und da April noch nicht adoptiert ist, hat sie juristisch eine sehr gute Chance, sie zurückzubekommen.«
Joe zuckte zusammen. »Wie kann ein Richter ihr April zurückgeben – nach all dem, was Jeannie Keeley getan hat?«
»Richter tun so was, Joe. Leibliche Mütter haben viel Einfluss – auch dann, wenn Sie und Marybeth offensichtlich rührend für das Mädchen sorgen. In Wyoming gilt ein Kind nicht als ausgesetzt, solange die Mutter – und sei es nur über einen Richter – zu ihrem Kind Kontakt hält.«
»Wir haben sie wirklich lieb«, sagte Joe entschieden. »Sie ist eine von uns.«
»Dumm, dass das Adoptionsverfahren sich so hingezogen hat«, sagte Hersig mitfühlend. »Das ist das Problem.«
Joe fluchte und wandte sich kurz ab.
»Wäre in diesem Punsch bloß Alkohol«, meinte Hersig gedankenverloren und blickte in seinen Becher, als könnte er dadurch einen Schuss Bourbon hineinzaubern. »Schließlich ist Silvester.«
»Wie stehen die Ermittlungen gegen Nate Romanowski?«, fragte Joe. »Wissen Sie, er hat mich neulich angerufen – ich hab ihn im Gefängnis besucht, und er hat mir erzählt, er sei unschuldig.«
»Davon habe ich gehört«, sagte Hersig kopfschüttelnd. »Nicht zu fassen, dass einer, der im
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