Blutschnee
Strickland sich wieder zu ihren Kollegen
setzte, drehte sie sich um und überreichte ihre Rede der Journalistin, die dankbar lächelte.
Der Leichenschmaus fand im Gebäude der Forstverwaltung statt. Joe fiel gleich auf, dass die Gardiners nicht da waren. Carrie und vor allem ihre Kinder taten ihm leid. Die anderen Trauergäste versammelten sich in der Empfangshalle, tranken Punsch aus Pappbechern und aßen Kekse von Tellern, die auf Bürotischen drapiert waren. Hinter diesen Tischen standen in sichtlichem Unbehagen Angestellte der Behörde und forderten die Gäste auf, sich an den Keksen zu bedienen. Dabei wirkten sie so lustlos, dass Joe annahm, ihre direkte Vorgesetzte Melinda Strickland habe ihnen eingeschärft, gute Gastgeber zu sein.
Elle Broxton-Howard kam auf Joe und Marybeth zu und stellte sich ihnen vor. Sie trug eine bayerische Lodenjacke mit Stehkragen über einer schwarzen Stretchhose und gab Joe ihre Visitenkarte.
»Rumour Magazin«, las Joe vor. Ging es da also nur um Gerüchte? Er reichte ihr seine eigene Karte, und sie steckte sie geistesabwesend ein.
»Dieses Magazin ist in England sehr beliebt«, erklärte sie. »Es ist eine Mischung aus Maxim und People mit einer Prise New Yorker, damit auch Intellektuelle und Literaten zu Wort kommen. Ich arbeite außerdem freiberuflich.«
»Ich glaube, meine Mutter liest diese Zeitschrift«, sagte Marybeth, um nicht unhöflich zu sein.
Broxton-Howard nickte ihr zu, wandte sich dann aber wieder an Joe. Er wusste, wie sehr seine Frau das hasste.
»Ich arbeite an einer großen Reportage über den Kampf zwischen ländlichen Bürgerwehr-Typen und der US-Regierung«,
sagte Broxton-Howard. »Und Melinda Strickland soll meine Hauptfigur sein – eine willensstarke, unabhängige Frau in männlich dominiertem Umfeld; eine Barbara Stanwyck unserer Zeit.«
Sie wurde unterbrochen, da Melinda Strickland sich mit ihrem breiten, ganz unangebrachten Lächeln dazugesellte. Ihr Cockerspaniel tappte ihr nach.
»Ich bin Marybeth Pickett, Joes Frau.« Marybeth streckte ihr die Hand entgegen und lächelte etwas boshaft, wie Joe fand.
»Joe war uns bei unseren Bemühungen sehr dienlich, und wir wissen das enorm zu schätzen«, erwiderte Strickland und sah ihn an. »Er war eine gewaltige Hilfe.«
»Diesen Eindruck hatte ich nicht, als Sie mich neulich auf meinem Handy anriefen«, bemerkte Joe.
Strickland reagierte, als hätte Joe ihr eine Ohrfeige versetzt. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Dann bekam sie wieder ihr freundliches Gastgebergesicht.
Donnerwetter, dachte er.
»Sagen Sie, Joe«, fuhr Strickland fort, »haben die extremistischen Tendenzen in dieser Gegend Sie in Ihrer Arbeit behindert? «
Joe dachte kurz nach. »Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, was Sie mit ›extremistischen Tendenzen‹ meinen. Es gibt zwar einige schwarze Schafe, aber insgesamt unterstützen mich die Einwohner dieses Bezirks.«
Strickland neigte den Kopf skeptisch zur Seite. »Wirklich?« Offenkundig glaubte sie ihm nicht, wollte daraus aber keine Szene machen.
Joe zuckte die Achseln. »Manche Leute mögen etwas eigenwillig und stur reagieren, wenn es um die Verwaltung der Bundesforste und um die Gesetze und Verordnungen geht, die
für diese Wälder gelten. Aber sie lassen mit sich reden, wenn man ihnen vernünftig und fair begegnet.«
»Ich finde ›eigenwillig‹ angesichts der Ermordung eines leitenden Beamten der Forstverwaltung einen seltsamen Begriff«, sagte Strickland und sah Marybeth und Broxton-Howard um Bestätigung heischend an.
Joe wollte den Moment nutzen und etwas klarstellen, solange Strickland ihm noch gegenüberstand.
»Vor ein paar Tagen habe ich einen gewissen Wade Brockius kennengelernt«, begann er. »Er ist eine Art Sprecher der – « Bevor er mehr sagen konnte, schien Strickland plötzlich aufzufallen, dass auf dem Tisch nebenan Kekse fehlten, und sie verabschiedete sich, um die Angestellten zur Aufmerksamkeit zu mahnen. Auch Broxton-Howard verschwand in der Menge.
Joe und Marybeth sahen sich an.
»Na, die ist ja interessant«, konstatierte Marybeth. »Aber auf die üble Art.«
»Denk an das, was Romanowski gesagt hat«, erwiderte er.
»Du berufst dich auf die Worte eines Mordverdächtigen, Joe«, gab Marybeth lächelnd zu bedenken.
»Ich tu es auch nicht wieder«, meinte er verdrießlich.
»Hast du gemerkt, wie sie sich dir gegenüber verhalten hat?«, fragte Marybeth.
Joe schüttelte den Kopf.
»Sie hat nicht mit dir geredet, und
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