Blutschnee
bewegt?«
Sie lächelte. »Das ist das Einzige, was ich richtig gemacht habe.«
Er zwinkerte ihr zu. »Und das Wichtigste. Auch wenn du es nur rein innerlich tust und alle denken, du bist die Ruhe selbst: Gib stets genau darauf acht, was um dich rum geschieht.«
Der Wind frischte auf, während sie sich in westlicher Richtung bewegten. Der Neuschnee vom Vortag mischte sich mit dem körnigen Schnee des ersten Sturms und zog in kaleidoskopartigen Wirbeln über den Boden. In Wyoming bleibt der Schnee nie an einem Platz, dachte Sheridan. Er ist immer unterwegs und bildet pausenlos neue Formationen, als würde er dauernd nach einem besseren Ort suchen. Sie bogen von der Landstraße ab und fuhren ein paar Kilometer über eine verschneite, aber geräumte Schotterpiste. Links und rechts erhoben sich steile, hohe Schneewehen.
»Da ist es«, sagte ihr Vater und zeigte auf ein Haus, das vor der Windschutzscheibe aufgetaucht war.
»Wohnt dort der Mann, der im Gefängnis sitzt?«, fragte Sheridan.
»Ja. Er ist Falkner und hat mich gebeten, seine Vögel zu füttern.«
»Ist er ein böser Mensch?«
»Man wirft ihm vor, einen Mord begangen zu haben.«
Sheridan verzog das Gesicht. »Warum helfen wir ihm dann?«
»Tun wir doch gar nicht. Wir sorgen nur dafür, dass seine Vögel überleben. Es gibt keinen Grund, sie zu bestrafen. Jedenfalls hoffe ich, dass wir ihnen helfen. Letztes Mal, als ich hier war, um sie zu füttern, hab ich sie nicht gesehen.«
Es gab einen kaputten Zaun und dahinter ein Häuschen aus Stein und ein kleines, eingestürztes Gebäude, von dem Sheridan nicht wusste, wozu es gedient haben mochte. Nichts Besonderes, dachte Sheridan, obwohl die steile rote Klippe auf der anderen Seite des Flusses jetzt bei Sonnenuntergang wunderschön leuchtet. Ihr Vater fuhr mit dem Pick-up bis vors Haus, schaltete den Motor aus und zog sich Lederhandschuhe an.
»Es ist kalt, aber nicht zu sehr«, sagte er, öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen. »Nate Romanowski hat sich ein hübsches Plätzchen ausgesucht. Es ist der einzige Fleck im Tal, an dem es einigermaßen windstill ist.«
Sheridan tätschelte Maxine und ließ sie im Führerhaus zurück. Ihr Vater musste ihr nicht sagen, dass der Hund bei ihrem Versuch, die Vögel zu füttern, nur stören würde.
Joe stand vor der Motorhaube, musterte das Steinhaus und schüttelte den Kopf. Die Tür war aufgestoßen, Kleidung und Möbel im Hof verstreut. Bücher lagen aufgeschlagen und mit dem Rücken nach oben im Schnee, und Feuchtigkeit hatte den Buchblock aufgeschwemmt.
»Das Haus ist geplündert worden«, sagte ihr Dad. »Man hat es auseinandergenommen, um Beweise zu finden.«
Sheridan nickte. Sie nahm an, ihr Vater sei etwas beschämt über das Vorgehen der Ordnungskräfte. Schließlich gehörte er auch dazu.
Er hob einige Bücher auf. »Die Kunst des Krieges. Meuterei auf der Bounty. Der Wohlstand der Nationen. Huckleberry Finn«, las er von den Buchrücken ab. Auch Sheridan hob zwei Bücher auf und folgte ihm ins Haus. Beide Texte beschäftigten sich mit Falknerei.
Drinnen stapelten sie die Bücher auf einen Tresen, ehe sie sich umschauten. Es herrschte völliges Chaos. Schranktüren klafften auf, Schubladen waren herausgezogen, und der Inhalt lag auf dem Boden verteilt. Die Matratze im Schlafzimmer war aufgeschlitzt, und Baumwollfüllung und Sprungfedern lugten hervor. Sogar Teile der Innenwände waren aufgeschlagen worden.
Sheridan sah zu, wie ihr Vater nach draußen ging und die Möbel ins Haus zurücktrug. Zwar war die Einrichtung recht verwohnt gewesen, doch nun waren die meisten Stücke obendrein beschädigt. »Es gehört sich ja wohl, diese Sachen vor der Witterung zu schützen«, meinte ihr Vater. Er musste achtmal gehen, bis er alles hereingeschafft hatte. Sheridan half ihm, so gut sie konnte. Und sie vermochte den Blick einfach nicht von einem gerahmten Foto abzuwenden, dessen Glas gesprungen war. Auf dem ausgeblichenen Bild standen vier Männer Schulter an Schulter in der Wüste. Sie trugen weiße Gewänder, und hinter ihnen erkannte sie ein Kamel. Drei Männer wirkten wie Araber mit ihren dunklen Zügen und Bärten. Der vierte Mann war blond, hatte einen eindringlichen Blick und lächelte schwach.
Ihr Vater trat zu ihr und nahm das Foto in die Hand.
»Das ist Nate Romanowski«, sagte er und zeigte auf den vierten Mann. Er klang überrascht, nickte und schürzte die Lippen, als sehe er eine Vermutung bestätigt.
»Was ist?«, fragte
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