Blutschnee
Sheridan.
»Nichts«, erwiderte er, doch sie kannte ihren Vater gut genug, um an seinem Ton sofort zu merken, dass er einfach nicht darüber reden wollte.
Sie verließen das Haus, und ihr Dad schloss die Tür. Dann suchte er den Himmel ab.
»Da hinten sitzt einer der beiden.« Er zeigte zum Fluss. Sie folgte seinem Finger und entdeckte den Vogel.
»Das ist ein Rotschwanzbussard«, fuhr er fort. »Er ist noch nicht ausgewachsen, kaum ein Jahr alt. Das merkt man daran, dass er noch ein braunes Schwanzgefieder und eine schmutzbraun gesprenkelte Brust hat.«
Sie betrachtete ihren Vater, und er lächelte. »Geh und nähere dich ihm, aber lass ihm viel Platz. Er braucht eine Art Polster zwischen sich und dir – sonst wird er unruhig. Ich hole etwas Futter für die beiden aus dem Wagen – bin gleich wieder da.«
Der Bussard hockte auf einem Stück Holz, das ans Ufer getrieben war. Er verharrte so reglos, dass sie ihn leicht hätten übersehen können, wenn sie nicht nach ihm Ausschau gehalten hätten. Als sie näher kam, musterte er sie genau.
Er war kleiner als erwartet. Reglos, kompakt und ohne seine Spannweite zu offenbaren, schien der Bussard kaum größer als ein ausgewachsener Rabe zu sein. Doch anders als ein Rabe hat dieser Bussard was Majestätisches, dachte Sheridan. Der Kopf des Vogels war ein wenig in den Nacken gelegt, als blickte er auf sie herunter, und das Gefieder war fein gezeichnet: Das Tier hatte eine beige gesprenkelte Brust und kastanienbraune Schwingen. Seine großen, faltigen Krallen waren
um das Treibholz geschlagen, und glänzend schwarze, umgebogene Nägel hatten sich hineingebohrt.
Von hinten hörte sie ihren Vater kommen. Der Bussard beobachtete nun ihn und nicht mehr sie. Als ihr Dad mit einem toten Beifußhuhn an ihr vorbeiging und es vor dem Raubvogel in den Schnee legte, begriff sie, warum.
Der Bussard betrachtete erst das Huhn, dann Sheridan, dann ihren Vater. Seine Bewegungen waren präzise und muteten beinahe mechanisch an.
Dann hüpfte er mit leichtem Flügelschlag vom Treibholz auf das Huhn zu und begann zu fressen.
»Das ist etwas … abstoßend, Schatz«, warnte ihr Dad.
Doch Sheridan war fasziniert. Sie schaute zu, wie der Bussard das Beifußhuhn methodisch zerteilte und Stück für Stück komplett verschlang. Während des Fressens wurde die Beule über seiner Brust immer dicker.
»Diese Verdickung nennt man Kropf«, erklärte ihr Vater. »Er füllt sich beim Essen. Es wird dort für später aufbewahrt. Das ist ein Grund, warum diese Vögel bis zur nächsten Mahlzeit so lange überdauern können.«
Nun bemerkte sie, dass der scharfe Schnabel des Bussards blutbefleckt war und Hühnerdaunen durch die Abendluft trieben. Sie beobachtete den Bussard vorsichtig. Obwohl sein Blick hart und unbeteiligt war, spürte sie, dass er sich behaglich fühlte und entspannt war.
»Ist dieser Vogel ein Haustier?«, fragte sie.
»Aber nein. Gute Falkner brechen den Willen der Vögel nicht oder zähmen sie. Sie arbeiten mit ihnen wie mit Gleichberechtigten. Die Vögel können jederzeit wegfliegen, wenn sie wollen.«
Vom Beifußhuhn waren jetzt nur noch die Klauen übrig. Sheridan beobachtete, wie der Bussard den Kopf senkte und
den ersten Fuß fraß. Das Krachen dabei erinnerte sie an das Geräusch, mit dem man Erdnüsse knackt.
»Da kommt der Wanderfalke«, flüsterte ihr Vater.
Sie blickte auf. Der Vogel glitt wie ein fliegendes V flussaufwärts nur einen Meter über der Wasseroberfläche und dem Eis im Zickzack hin und her, und sie hörte seine Schwingen durch die Luft zischen.
»Rühr dich nicht«, sagte ihr Vater und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich glaube, er kommt zurück.«
»Hast du noch ein Beifußhuhn?«, fragte sie besorgt.
»Ja.«
Es dauerte ein wenig, ehe der Wanderfalke zurückkehrte. Diesmal flog er flussabwärts und etwas näher am Ufer.
»Was für ein schöner Vogel«, meinte Sheridan.
»Wanderfalken sind die Jäger schlechthin«, sagte ihr Vater. »Sie sind nicht die größten, aber die schnellsten und vielseitigsten Falken. Früher waren sie vom Aussterben bedroht, aber inzwischen gibt es wieder viele von ihnen.«
Sheridan war entzückt.
Und als der Wanderfalke schließlich auf sie zuflog, die Schwingen weit ausfuhr, um sich niederzulassen, und dann kaum zwei Meter von ihnen entfernt seine Flügel mit großer Anmut schloss, hatte sie das Gefühl, etwas Wildes und Magisches sei geschehen.
Ihr Vater legte das andere Beifußhuhn vor dem Falken in
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