Blutschnee
während der Belagerung um die Welt gegangen. Er hat lieber drei Jahre lang im Staatsgefängnis in Deer Lodge geschmort, als den Behörden zu erzählen, was er über die Anführer der Freemen weiß. Und doch hat er solche Angst vor mir, dass er zusammenzuckt, wenn ich ihn anfahre, und wie ein Eunuch zu heulen
beginnt, wenn ich damit drohe, ihn zu verlassen. Clem der Freeman, dachte sie. Clem der Freeman.
Die Glocke läutete erneut, und die Pause war vorbei. Jeannie sah zu, wie April und die anderen Mädchen im Gebäude verschwanden.
»Diese Marybeth Pickett glaubt, sie sei April eine bessere Mutter als ich«, sagte Jeannie erbittert.
Clem ächzte, um zum Ausdruck zu bringen, wie sehr er die Ansicht Marybeths missbilligte.
»Sie hat mich und April ausgenutzt«, stieß Jeannie hervor. »Sie hat sich meine Kleine unter den Nagel gerissen, als es mir richtig dreckig ging und ich mich nicht um April kümmern konnte. Und jetzt will sie das Mädchen behalten, weil sie eins ihrer Kinder verloren hat.«
Clem ächzte erneut.
»Die Leute haben mich mein ganzes Leben lang beschissen. Nur weil ich kleiner bin und eine geringere Schulbildung habe als sie, denken sie, sie können mir alles wegnehmen.« Ihre Augen wurden schmal, und sie steckte sich eine neue Zigarette an. »Ote, mein erster Mann, hat mir meine Kindheit und meine Zukunft geraubt, als er mich in dieses verdammte Kaff brachte, um wie ein Waldläufer zu leben. Danach hat mir ein Richter in Mississippi meinen Jungen weggenommen. Der Kerl hat gesagt, ich hätte mein Kind vernachlässigt, was eine Lüge war. Jeder hat das Recht, in die Ferien zu fahren, und nur das hab ich getan. Warum habe ich ausbaden müssen, dass auch mein Babysitter, das kleine Miststück, Ferien gemacht hat? Aber dieser Richter hat meinen Jungen einfach einkassiert.«
Jeannies Jüngste, eine Dreijährige, lebte bei Otes Eltern in Jackson, Mississippi. Sie wollten sie behalten, doch Jeannie hatte andere Pläne.
Sie funkelte Clem zornig an, und er schüttelte langsam den Kopf.
»Eine ungeheure Sauerei«, bestätigte er ihr.
»Da hast du verdammt Recht.« Sie wandte sich der Frontscheibe zu, die schon wieder beschlug. »Wenn wir April erst haben, fahren wir mein Baby holen.«
Jeannie zog zwei Briefe aus der Handtasche. Der eine war alt und braun, der andere neu und weiß. Sie schüttelte ein paar Fotos aus dem braunen Umschlag, und Clem beobachtete, wie sie sich die Schnappschüsse ansah.
»Diese Bilder zeige ich April, um sie an ihre Herkunft zu erinnern«, sagte sie. »Das hier ist sie mit ihrem Bruder, als beide Babys waren. April hat lieber an Zeige – und Mittelfinger als am Daumen gelutscht. Ote fand das unnatürlich.«
Sie schaute nochmal alle Fotos durch, lächelte über manche und blätterte über andere hinweg. Dann steckte sie sie wieder in den Umschlag zurück.
Das weiße Kuvert enthielt einen Gerichtsbeschluss, der Jeannie das sofortige Sorgerecht für April zusprach. Er trug die Unterschrift von Richter Potter Oliver aus Kemmerer, Wyoming.
Clem hatte ihr den Tipp mit Richter Oliver gegeben. Sie waren durch ganz Wyoming gefahren, um ihn zu sprechen, hatten dann aber stundenlang in seinem Büro warten müssen. Clem hatte ihr erzählt, Oliver sei »exzentrisch«, habe das Herz aber auf dem rechten Fleck. Bald hatte sie herausgefunden, was Clem damit meinte: Der Richter sympathisierte mit den Freemen und hatte einige der unsäglichsten Pläne zur Finanzierung ihrer Bürgerwehr abgesegnet. Den Petitionen und angedrohten juristischen und gesetzgeberischen Schritten zum
Trotz, die darauf zielten, ihn seines Amtes zu entheben, war es Oliver gelungen, auf dem Richterstuhl zu überdauern. Nun aber sei er gezwungen, binnen eines Jahres in den Ruhestand zu treten, erzählte er ihnen. Des Alters wegen.
Richter Oliver war ungeheuer dick und hatte einen schütteren Bart und schwere Lider. Eine Bankerleuchte mit grünem Schirm tauchte einen Teil seines Büros in grelles Licht, den anderen Teil in dunkle Schatten. Er trug einen alten dreiteiligen Anzug, der schon fadenscheinig war und da und dort speckig glänzte. Wegen eines Gichtanfalls, so erklärte er ihnen, müsse er statt Schuhen Pantoffeln tragen. Jeannie sah die Treter unter seinem Schreibtisch stehen – sie waren so riesig, als wären sie für Elefantenfüße gedacht.
Während Jeannie ihr Anliegen vorbrachte, hielt Clem ihr die Hand. Richter Oliver hörte ungerührt und mit vor dem Bauch verschränkten Pranken zu.
Als sie
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