Blutschnee
erwachte einige Stunden später, und Bruchstücke eines weiteren Alptraums spukten ihm durch den Kopf. Leise glitt er aus dem Bett, trat ans Fenster, drückte die Stirn an die kalte Scheibe und fragte sich, wie alles sich so schnell zum Schlechten hatte wenden können.
Da braut sich was zusammen, dachte er. Seine Familie geriet aus dem Lot, und er war daran nicht ganz schuldlos. Irgendwie, überlegte er, muss ich mehr tun. Ich muss versuchen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Ich muss etwas unternehmen, bevor hier alles in die Luft fliegt.
22
Am nächsten Morgen saß Joe zeitig allein beim Frühstück, als Marybeth die Treppe herunterstieg. Ihr Gang verriet ihm, dass sie noch immer ärgerlich auf ihn war. Er beobachtete, wie sie wortlos in sein Büro marschierte und zornfunkelnd zurückkehrte.
»Du hast ein Fax.« Ihre Stimme war nicht freundlich. »Ich hab es am späten Abend kommen hören.«
Joe fuhr zusammen und griff nach dem Blatt.
»Das ist von Elle Broxton-Howard«, sagte er lesend.
»Ich weiß.«
»Sie will mich interviewen. Ich hab sie eingeladen, mit uns zu Abend zu essen.«
»Das hatte ich mir schon gedacht.«
»Das ist eine Liste der Dinge, die sie nicht verträgt. Ich schätze, sie hat sie immer dabei, um sie zu versenden, wenn sie irgendwo eingeladen wird.«
»Sieht ganz so aus.«
»Hier steht, sie isst weder Geflügel noch Rind – oder Schweinefleisch, kein Oliven – oder Rapsöl, keinen Zucker, keine industriell hergestellten Lebensmittel wie Fertiggerichte und nichts, was genetisch veränderte Pflanzen oder Tiere enthält.«
»Mhm.«
»Sie hat einen Menüvorschlag gemacht: gebratene Forelle, gedünsteten Brokkoli und ungeschälten Reis. Von all dem haben wir gar nichts im Haus«, sagte Joe.
»Nein, aber ich kann gern für das kleine Abendessen von dir und deiner Freundin einkaufen fahren.«
»Das ist nicht nötig, Marybeth.«
Sie wirbelte auf dem Absatz herum und ging hoch, um sich anzuziehen.
Joe fluchte, zerknüllte das Fax und warf es Richtung Abfalleimer.
Schlecht gelaunt verließ Joe das Haus und fuhr auf der Bighorn Road Richtung Battle Mountain, also zum Zeltplatz der Souveränen. Erneut blockierte McLanahans Geländewagen die Straße. Joe näherte sich vorsichtig und hielt, während der Hilfssheriff langsam aus dem Auto stieg und ihn grüßte.
»Immer noch an der Straßensperre eingeteilt?«, fragte Joe, während er sein Fenster herunterkurbelte.
»Ja, verdammt«, antwortete McLanahan mit klappernden Zähnen. Weiße Atemwölkchen drangen aus seinen Nasenlöchern.
»Gibt’s hier oben denn irgendwelchen Verkehr?«, fragte Joe. »Ist unter den Souveränen viel Kommen und Gehen?«
McLanahan schüttelte den Kopf. »Ab und an ein, zwei Pick-ups. Aber sie nehmen auch die Timberline Road auf der anderen Bergseite – deshalb sehe ich sie nicht alle.«
»Und heute Morgen?«
»Da sind Sie der Erste. Abends ist gewöhnlich mehr los. Die beiden Jungs vom FBI sind oft hier durchgerauscht. Sie hatten viele Lautsprecher und Verstärker dabei, und ich schätze, für heute Abend ist eine neue Stufe geplant.«
»Eine neue Stufe?«
McLanahan zuckte die Achseln. »Fragen Sie mich nicht. Die beiden erzählen mir nichts, und abends steh ich nicht hier. Ich weiß nur, dass dieser Munker ein Widerling ist.«
Joe wies mit dem Daumen auf die Ladefläche seines Pick-ups.
»Ich hab für unsere Tochter April einiges an Kleidung und Spielzeug auf dem Zeltplatz abzugeben.«
Marybeth hatte die Kisten am frühen Morgen noch im Dunkeln gepackt. Es musste ihr sehr schwergefallen sein, aber sie hatte nichts darüber gesagt. Sie redete nicht mit ihm – ebenso wenig wie Missy, was Joe allerdings als Segen empfand.
McLanahan zuckte die Achseln. »Ich soll jede Lieferung überprüfen.«
»Nur zu.«
Der Hilfssheriff setzte eine gequälte Miene auf, während er offenbar abzuschätzen versuchte, wie viel Zeit ihn das in der bitteren Kälte kosten würde und wie viel angenehmer es wäre, wieder in seinen warmen Geländewagen zu steigen. Schließlich trat McLanahan beiseite und winkte Joe durch.
Joe hielt wie beim letzten Mal am Eingang zum Zeltplatz und stieg aus. Ein bärtiger Mann in dickem Armeeparka kam aus dem Wohnwagen neben dem Tor und stellte sich dicht an den Zaun. Er trug kein Gewehr, doch Joe vermutete, dass er bewaffnet war. Er stapelte die Kisten und den Koffer vor dem Stacheldraht.
»Was haben Sie da?«, fragte der Bärtige.
Joe erklärte, das seien Sachen für April Keeley. »Ist
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