Blutschnee
wenig lauter herüber. Der Bassrhythmus brachte den Metallrahmen des Wohnwagens zum Vibrieren und klang für Jeannie wie der Herzschlag des Teufels persönlich.
»Warum wird das immer wieder gespielt? Kannst du nicht dafür sorgen, dass es aufhört?«, fragte April.
Ein weiteres Geräusch mischte sich jetzt unter die flotte Melodie von »Danke schön«. Zuerst ein Messer, das an einem Wetzstahl geschliffen wurde. Ein leiser Stoß war zu hören, dann ein Geräusch, als würde Stoff entzweigerissen. Zugleich erklang ein hohes, außerirdisches Kreischen, das Jeannie mit den Zähnen knirschen ließ. April weinte stärker und zitterte. Das Kreischen war jetzt ohrenbetäubend und übertönte das Lied von Wayne Newton.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Clem, der inzwischen erwacht war. »Ein Kaninchen, dem bei lebendigem Leib das Fell abgezogen wird.«
Jeannie fragte ihn nicht, woher er das wusste.
Schließlich hörte das Geräusch auf. Das Kaninchen keuchte flach und starb mit einem Röcheln.
April zitterte am ganzen Körper und hatte die Hände an die Ohren gedrückt und die Augen fest geschlossen.
Dann begann die blecherne Musik von vorn und tönte noch ein wenig lauter. Und auch das Messerwetzen im Hintergrund war nun deutlicher zu hören.
Danke schön, Darling, danke schön,
Thank you for walks down Lover’s Lane …
Dritter Teil:
Starkes Schneetreiben
25
Das Telefon neben dem Bett läutete um fünf nach fünf, und Joe nahm beim ersten Klingeln ab. Bezirksstaatsanwalt Robey Hersig war am Apparat.
»Hab ich Sie geweckt?«
»Kein Problem«, sagte Joe. »Ich war ohnehin die meiste Zeit wach.« Marybeth hatte erneut schlecht geschlafen, sich hin-und hergeworfen und um April gesorgt. Joe hatte sie beruhigen wollen, aber keinen großen Erfolg gehabt. Nachdem sie wieder eingeschlummert war, hatte er sein Gespräch mit Nate Romanowski erneut Revue passieren lassen und sich gefragt, was passiert wäre, wenn er seine Hilfe angenommen, ihn also von der Leine gelassen hätte.
»Joe, hat Ihnen jemand wegen der Besprechung Bescheid gesagt, die heute früh in der Forstverwaltung stattfindet?«
»Nein.«
»Das hatte ich mir gedacht. Strickland und Barnum haben für halb acht ein Treffen angesetzt und die Ordnungshüter des Bezirks einbestellt. Außerdem sollen sich alle Beamten Wyomings einfinden, also die Landespolizei und auch Sie.«
Joe schloss die Augen und holte tief Luft. »Was ist passiert?«
»Die Hölle ist ausgebrochen.«
Der Kaffee, den er auf der Fahrt nach Saddlestring aus seinem Blechbecher mit Deckel trank, schmeckte bitter und metallisch. Für sieben Uhr war es ungewöhnlich dunkel, und er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass die Wolkendecke
so dicht war, dass sie die aufgehende Sonne weitgehend abschirmte. Ein rußiger Deckel schien über dem Tal zu liegen. Der einzige Riss war ein rasiermesserdünnes, orangefarbenes Band, das parallel zur Salbeistrauchebene im Osten am Himmel stand. Dieses Band war der einzige Beweis dafür, dass es Tag geworden war.
Joe wusste, dass ein mächtiger Sturm im Anzug war.
Er dachte an das Gefühl, das er vor Lamar Gardiners Schüssen in der bewaldeten Senke gehabt hatte: das Gefühl, die Artillerie werde vor Beginn des Sperrfeuers in Stellung gebracht. Nun hatte er dieses Gefühl wieder, diesmal aber stärker.
Joe war bestürzt darüber, wie viele Fahrzeuge von Ordnungshütern um die Forstverwaltung herum parkten, die abseits der Hauptstraße lag. Er stellte seinen Wagen einen halben Block weiter ab und marschierte über den buckligen Betonbürgersteig zum Gebäude. Es war windstill, doch hohe Luftfeuchtigkeit und niedriger Luftdruck gaben der Atmosphäre etwas seltsam Aufgeladenes. Noch immer war es ungewöhnlich dunkel, und Joe musste an das unirdische Halblicht denken, das im Vorsommer bei einer Sonnenfinsternis geherrscht hatte. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er genau rechtzeitig zu der Besprechung kam.
Empfangshalle und Konferenzzone waren seit Silvester völlig umgestaltet worden. Die Schreibtische waren an die Wände gerückt worden, um mehr Platz zu schaffen. Hilfssheriffs, Stadt – und Landespolizisten liefen auf der freien Fläche umher und tranken Kaffee. Joe hatte nie so viele dicke Bäuche auf einmal Uniformhemden spannen sehen wie hier. Da so früh kaum geredet wurde, waren die schweren Stiefelschritte und das Knarren der ledernen Holster und Gürtel deutlich
zu hören. Die Hilfssheriffs McLanahan und Reed
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