Blutschuld
dem Naomi in ihrer Wut den Ellenbogen in die Kehle gerammt hatte, begegnete ihrem Blick, ganz unverfroren. »Die beiden werden nichts davon mitbekommen«, erklärte er heiser und massierte sich den lädierten Hals.
Naomis Haut prickelte. Magie schwängerte die Luft in dem breiten, hohen Flur, in dem Stimmen als Echos von den Wänden hallten. Aber der Andreas-Schild schlief. Warum?
Wie konnte das sein?
Ein Teenager mit olivbrauner Haut legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Entschuldige, Joel«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass sie wie ein Mann kämpft.«
Um Joels Mundwinkel zuckte es, aber das Düstere, das seinen Blick beherrschte, blieb.
Gemma zog Naomis Hände an die Brust, ihre Hände kraftloser noch als vorhin. Naomi hatte einen dicken Kloß aus ungeweinten Tränen im Hals und musste schwer schlucken, um ihn loszuwerden. Sie zwang sich, all die Warnungen, die ihr missionstrainiertes Gehirn ihr zuschrie, zu ignorieren, und beugte sich über die sterbende Frau.
Über Phins sterbende Mutter.
Eine Hexe.
Dann ermittelt die Kirche also nicht gegen das Zeitlos?
Phin hat es gewusst. Der verlogene, hinterhältige Scheißkerl hat es gewusst .
Und er hatte behauptet, er liebe sie.
Sie spürte Gemmas Hand, kraftlos und blutverschmiert, auf ihrem Hinterkopf. Gemmas Lider flatterten, sie öffnete die Augen. Wunderschöne, schokoladenbraune Augen, von Schmerz verschleiert. Aber dennoch war da dieselbe Entschlossenheit und Konzentration, die Naomi so oft schon in Phins Blick gelesen hatte. »Es tut mir leid«, hauchte Gemma.
Naomi gelang ein schiefes Lächeln. »Ist nicht das erste Mal, dass …«
Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als Gemma ihr Gesicht zu sich herunterzog und ihr einen Kuss auf die Lippen drückte, der Naomi den Atem nahm.
Sie hatte den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge und das Salz von schweißnassen Lippen. Sie schmeckte Pfefferminz, spürte die Wärme von Gemmas Unterlippe und schluckte Überraschung und eine sich plötzliche brechende Welle von Schmerz hinunter, der sich nicht anfühlte, als wäre es ihr eigener.
Die Welt um sie herum explodierte.
Für eine Ewigkeit aus Stille wurde um Naomi herum alles weiß.
KAPITEL 19
Das Knistern des Feuers weckte sie.
Ihr Traum verschwamm zu blassen Bildern. Die unwirkliche Leere, für die sie keinen Namen hatte, verlor sich im Ungewissen, löste sich in tröstliche Behaglichkeit auf. Wärme umgab Naomi, beruhigte ihren Verstand und ihre aufgewühlte Seele.
Sie war zu Hause.
Tief holte sie Atem. Es duftete nach brennendem Kiefernharz. Der wunderbare Duft hüllte sie ein wie ein schlafwarme Decke.
Zum ersten Mal seit Jahren tat Naomi nichts weh. Sie hatte keine Schmerzen. Nichts brannte, nichts pochte, nichts zwickte oder zwackte. Naomi fühlte sich ganz, eins mit sich, friedvoll.
Sie lächelte und öffnete die Augen.
Der Kaminsims aus Mahagoni glänzte im goldenen Feuerschein. Der Lack auf dem Mahagoni war so sorgfältig poliert, dass Naomi sich fast darin spiegeln konnte. Das Feuer im Kamin prasselte fröhlich und anheimelnd und tauchte das Zimmer in warmes Licht.
Auf dem Kaminsims standen keine gerahmten Fotografien. Keine Familienfotos, die hätten erzählen können, wer Naomi war. Aber sie brauchte keine Fotos, um zu wissen, dass sie sicher und geborgen war. Hier konnte ihr nichts zustoßen.
Um sie herum säumten Bücherregale die Wände, die Bände darin streng nach Farben geordnet. Das wertvolle Holz der Regale passte zur Kamineinfassung. Es war ebenso wie dieses auf Hochglanz poliert, obwohl es Reihe um Reihe bunter Buchrücken waren, die den Blick auf sich zogen. Enzyklopädien, neue Bücher, die seit dem Großen Beben gedruckt worden waren,einige wenige seltene und daher wertvolle Bände aus der Zeit davor.
Manche hatten Goldlettern auf dem Buchrücken, die im Feuerschein einladend schimmerten. Diese Bücher liebte Naomi ganz besonders. Weil sie so schön glänzten und so hübsch waren. Andere fielen im dämmrigen Licht kaum auf; sie waren alt und abgegriffen, ihre Rücken mit den Jahren brüchig geworden.
Naomi rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die herrlich weiche leichte Decke mit ihren üppigen Mustern rutschte ihr bis zur Taille hinunter, als Naomi sich aufsetzte. Ihren Vater hatte sie noch nie eines dieser herrlichen Bücher lesen sehen. Sie selbst aber holte sich manchmal eines aus dem Regal und blätterte es durch. Manchmal, wenn ihr Vater gerade nicht hinsah, tat sie so, als ob sie die
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