Blutschuld
daran einen letzten zuckenden, absurd verdrehten Tanz.
Lange Zeit konnte Naomi nicht atmen. Sich nicht rühren.
Bump, bump . Seine Füße schlugen einen dumpfen Rhythmus gegen die Schreibtischkante.
Naomi sank zu Boden.
Bump, bump.
»Daddy?«
Panik ließ ihr Herz stolpern, und plötzlich überfiel sie heftige Übelkeit.
»Daddy, die Nanny sagt, es gibt jetzt Abendessen.«
Naomi wandte sich um, mit Gliedern aus Blei. Bleiern war auch ihr Blut und deshalb jede ihrer Bewegungen schwerfällig. Das Blei in ihren Adern machte sie starr vor Entsetzen, unfähig etwas zu rufen, das kleine Mädchen zu warnen, das gerade die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters aufstieß.
Das Haar der Kleinen schimmerte im Feuerschein, war glänzend schwarz wie das ihres Vaters; sie trug es zu zwei Zöpfen gebunden, um jeden ein rosarotes Band. Ihr Rock war ordentlich gebügelt, ihre Bluse mit Rüschen besetzt und winzig wie Puppenkleidung. Sie trug Schnürschühchen in rosarot und weiß und hielt ein kleines Plüschpferd im Arm.
Dieses Pferdchen hatte sie heiß und innig geliebt.
»Daddy?« Ihre Stimme schwankte. Sie trippelte auf ihren kleinen Füßen über den Teppich, und Naomi versuchte verzweifelt, dem Horror ihrer Erinnerung zu entkommen. Diesem Traum zu entkommen, der ihr das Herz zerriss.
Aber sie erwachte nicht. Der Traum entließ sie nicht, er blieb.
Und Naomi streckte die Hand aus, als die Kleine sich auf den Teppich setzte und ihrem Vater dabei zusah, wie er hin und her schwang. Sie strich ihr über das glänzend schwarze Haar.
Der schrille Schrei der Nanny stürzte das ganze Haus ins Chaos.
Naomi zuckte zusammen.
»Es ist nicht deine Schuld.«
Ein Laut, halb ein Lachen, kam aus ihrer Kehle.
»Naomi.« Veilchenblaue Augen suchten ihren Blick. Weit aufgerissene Augen, in denen unvergossene Tränen glänzten. Ihre Kinderstimme, die, es war unheimlich, zugleich auch seltsam erwachsen klang, kam aus dem schön geschwungenen Kindermund. »Es ist nicht deine Schuld.« Eine Kinderhand wollte ihr über die Wange streicheln, durchstieß sie aber wie Luft.
Naomi sprang auf, nur zurück auf die Füße, drehte sich um und schrie. Sie brüllte Wut und Furcht heraus, als sie sich schlagartig dem rot angelaufenen Gesicht ihres Vaters gegenübersah, den blutunterlaufenen, toten Augen. Seine Leiche schwang nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt leise hin und her. Hin und her. »Es ist nicht deine Schuld«, röchelte er, während er hin und her schwang. Hin und her.
Das Seil knarzte und ächzte. Bump, bump .
»Nein!« Naomi stolperte rückwärts; sie rannte in eine Gestalt,angetan mit teurer Seide und ebenso teurem Parfüm, und glatt durch diese Gestalt hindurch. Spuren geisterhafter Farbe hafteten an ihren Wangen wie klebrige Finger, ein Hauch des Dufts wie ein zarter Schleier auf ihrer Haut, dieses Dufts, der Naomi bis in ihre Träume verfolgt hatte. Sie blieb stehen, schwankte.
In einer duftigen Wolke aus pfirsichfarbener Spitze und cremefarbener Seide drehte Abigail sich zu ihr um und lächelte traurig: »Es war nicht deine Schuld, nie und nimmer.«
Naomi schüttelte den Kopf, immer und immer wieder. Ein schriller, klagender Schrei wollte über ihre Lippen; sie aber biss fest die Zähne zusammen und hielt ihn zurück. Und schließlich brachte sie heraus: »Nein.« Schluchzen, Verstehen erstickte ihre Stimme. »Nein. Es war eure Schuld. Alles. Alles war ganz allein eure Schuld, euer beider Schuld!«
Das Lächeln der Leiche war verzerrt und gespenstisch zugleich. »Es gilt die Ehre der Familie zu schützen.«
»Es gab immer noch so viel, das ich unbedingt haben musste«, sagte Abigail leichthin.
»Und dennoch habt ihr alles verloren«, flüsterte Naomi. Sie wischte sich übers Gesicht, wütend, heftig, um die Tränen von den Wangen zu bekommen, aus den Augen. »Du hast deine Ehre verloren, Daddy, als du dein Kind im Stich gelassen hast, es weggegeben hast, damit eine Tötungsmaschine aus ihm werden konnte. Als du mich zum Werkzeug deiner verdrehten Rache gemacht hast.«
Das Gesicht der Leiche wurde weiß und aderndurchzogen wie Marmor.
Naomi zeigte mit dem Finger auf Abigail, ihre Stimme scharf und anklagend: »Und du, du hast alles verloren. Du hast es weggeworfen in der Hoffnung auf einen wundersamen Jungbrunnen, und jetzt ist es zu spät. Nichts von dir wird bleiben. Nichts! «
Geisteraugen starrten sie an. Musterten sie in tödlichem Schweigen.
Die fünf Jahre alte Naomi Ishikawa beobachtete sie vom Boden
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