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Blutschuld

Blutschuld

Titel: Blutschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karina Cooper
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schrecklich weh,ihn das sagen zu hören, ohne dass sie hätte benennen können, warum. Ein Stich mitten ins Herz. »Wie kannst du nur so etwas sagen?«
    Er wandte den Blick ab. Und mit einem Mal schienen seine Schultern nicht mehr so breit, wie Naomi sie in Erinnerung gehabt hatte. Er nicht mehr so stark. Er schien plötzlich schmaler, dünner. Waren ihre Erinnerungen falsch?
    Hatte das jahrelange Leben unter Männern, die robust wie Ziegelmauern gebaut waren, die Erinnerung an ihren Vater verfälscht?
    Unaufgeregt zog er die dicke Vorhangkordel aus ihrer Befestigung.
    Naomis Wut verwandelte sich in eine Woge aus Angst. »Daddy, nein!«
    »Hast du dir jemals etwas so sehr gewünscht«, fragte er, während er die Schnur aufschoss, präzise gleich große Schlingen, immer vom Daumen-Finger-Zwischenraum bis hinunter um den Ellenbogen, jede genau unterarmlang, »dass du dich von nichts hättest aufhalten lassen, um es zu bekommen?«
    Naomi schüttelte den Kopf. Weil ihr Tränen aus ohnmächtiger Wut und tiefem Erschrecken die Kehle zuschnürten.
    »Schließlich bekommst du es.« Mit gemessenen Schritten durchquerte ihr Vater ein weiteres Mal das Studierzimmer. Er ging an seiner Tochter vorbei, als sei sie nur ein Geist. »Es ist alles, was du dir je erhofft hast, alles, was du dir je erträumt hast und alles, was du   … je gefürchtet hast.«
    »Nein.«
    Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Und dennoch erträgst du es. Glücklich. Jeder Tag Folter und Wonne zugleich.«
    Naomi streckte die Hand aus, wollte die Schulter ihres Vaters berühren. Aber ihre Hand ging durch ihn hindurch, glitt durch Fleisch wie durch Rauch.
    Ihr Vater blieb stehen, wickelte einen Teil der Schlingen derSeidenkordel wieder ab, wog den Rest in der Hand. »Und dann verlierst du es«, sagte er ruhig. »Es ist fort. Einfach so.«
    Naomi floh einige taumelnde Schritte rückwärts, stieß gegen die Sofakante. Sie fiel auf das Sofa. Hilflos. »Daddy, bitte nicht. Bitte, tu das nicht.«
    Das Seil glänzte im Feuerschein, als Katsu Ishikawa es hochwarf, hoch herum um einen der freiliegenden Deckenbalken. Das Seil traf, schnurrte darüber hinweg. Eine Leichtigkeit, das geworfene Ende unten zu fangen. »Was hätte ich sonst tun können? Was hatte ich noch? Ich hatte das Gesicht verloren, die Ehre der Familie verspielt. Mein Ruf war ruiniert. Ihre Gläubiger belästigten mich jeden Tag.«
    Tränen sammelten sich, glitzerten wie Eiskristalle in Naomis Augen, überschwemmten sie mit bitterer, beißender Trauer. »Du hattest mich!«, brach es aus Naomi hervor. Sie hatte die Arme um den Bauch gelegt, darüber verschränkt, als hätte sie Schmerzen. Es gelang ihr nicht, den Blick abzuwenden. Sie konnte nur zuschauen, wie lange, schlanke Finger sicher und geschickt aus Vorhangschnur eine Schlinge knüpften.
    »Sie hat dich gewollt.«
    Ruckartig wandte Naomi das Gesicht ab. »Nein, hat sie nicht.«
    »Sie ist eine launische Person. Sie wollte dich, um mich zu ärgern. Aber ich wollte nicht, dass sie dich bekommt. Deshalb habe ich dich heimlich weggegeben. Sie hat nur alles andere bekommen.«
    »Nein!« Naomi sprang auf, als ihr Vater auf einen Stuhl stieg, den er neben den Schreibtisch gestellt hatte. Das Feuer knisterte und spuckte Funken auf die Steinplatten um dem Kamin.
    Der Feuerschein zuckte über das Gesicht ihres Vaters, fing sich in Katsu Ishikawas tot wirkenden Augen, als er an dem Seil zog und seine Festigkeit prüfte.
    Zittrig holte Naomi Luft. »Daddy, nicht!«
    »Es tut mir leid, Kleines.« Langsam, mechanisch zog KatsuIshikawa die Schlinge über seinen Kopf, legte sie sich um den Hals, zog den Knoten zu. »Es gilt das Gesicht zu wahren, die Ehre der Familie zu schützen.«
    »Es gilt, mich zu schützen!«, rief Naomi in höchster Not. Sie stürzte vor, umfasste seine Taille, wollte es, ihn packen an der Anzugjacke, an was auch immer, ihn aufhalten, und fluchte, als ihre Arme durch ihn hindurchgingen, als wäre er Schall und Rauch. Als er sich nach vorn ins Seil fallen ließ und dem Stuhl einen Tritt versetzte.
    Es tat weh. Der Stuhl krachte gegen Naomis Schienbeine, und Naomi taumelte zurück, humpelte, hinkte, während stechender Schmerz sich in ihre Knochen fraß.
    Aber sie konnte ihren Vater nicht erreichen, ihn nicht anfassen, ihn nicht stützen.
    Sie konnte nichts außer schreien, die aufgestaute Wut herausschreien und das Entsetzen. Ihr Vater schwang wie eine Marionette, deren Fäden durcheinander geraten waren, an dem Seil, tanzte

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