Blutschuld
gerade vorgeht, wo auch immer, ganz egal: irgendwo in dieser Stadt, auf dem ganzen Kontinent … ach, Scheiße!«, seufzte sie. »Manche Menschen können die Zukunft vorhersehen, okay? Ich sehe stattdessen, was jetzt gerade irgendwo auf der Welt passiert. Ich muss dafür nicht einmal einen Fuß vor die Tür setzen, wenn ich das nicht möchte. Es ist immer da, hört nie auf.«
»Ach, du meine Fresse!« Eine Hexe mit einer solchen Macht? Naomi fletschte die Zähne.
Hier und jetzt musste sie dieser Hexe vertrauen. War sie, die Hexenjägerin, vielleicht längst von Magiebesessenen umzingelt?
»Psst!« Jessie schaltete die Taschenlampe aus. »Hier irgendwo ist es …« Naomi wartete geduldig in dem ansonsten lichtlosen Tunnel, während ihre Begleiterin mit den Fingern über die glatte Wand fuhr. Irgendwo eine Bewegung, Ritzen, die einen Türrahmen verrieten. Staub wirbelte auf, und Rauch quoll aus den Ritzen.
»Hier.« Jessie zögerte. »Naomi, da stimmt was nicht.«
»Mach’ endlich die Scheißtür auf!«
Durch einen Spalt fiel Licht in den Rauch und die Dunkelheit um sie herum. Naomi drängte sich an Jessie vorbei, schob sie zur Seite, warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die versteckteTür. Sie sprang auf, krachte innen gegen die nächste Wand, prallte zurück und knallte Naomi gegen die Schulter.
Naomi kümmerte das nicht.
Alles, was sie kümmerte, war die kleine Gruppe Menschen, die sie mit großen Augen anstarrten. Sie saßen im Kreis um eine am Boden liegende Frau herum. Zwei hielten Waffen in der Hand.
Überall war Blut.
»Gemma!« Naomi achtete nicht auf die Waffen, scherte sich nicht um das allgemeine Aufkeuchen, die Angst, die Überraschung der Menschen. Dass sie wiedererkannt wurde. »Herr im Himmel, Gemma!«
Zwei Männer waren bewaffnet. Beide trugen Zeitlos -Uniformen. Beide machten Anstalten, Naomi davon abzuhalten, an ihnen und den Ausläufern der Blutlache vorbei zu Gemma hinüberzukommen.
Naomi fixierte die beiden, ihr mordlustiger Blick eine wortlose Herausforderung. Der eine der beiden Männer ließ sich beeindrucken und senkte die Waffe. Der andere aber hob sie und zielte auf Naomis Kopf. »Keine Bewegung«, befahl er. »Bitte.«
»Lasst sie …«
Blitzschnell und rücksichtslos packte Naomi die Waffe, drehte sie und verdrehte dem Mann dabei die Finger, dass Gelenke knirschten und Knochen krachten. Knochen verloren immer gegen Metall. Der Typ heulte auf, kreischte panisch, als Naomi jetzt sein Handgelenk packte und ihm auch das verdrehte. Ein Schritt, keinen Lidschlag später, und sie stand unmittelbar vor ihm, jetzt, wo ihm keine Waffe mehr Deckung gab und er ganz damit beschäftigt war, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Jägerin rammte dem Mann den Ellenbogen in die Kehle. Sein Schrei ging in einem Gurgeln unter.
Der Mann ging in die Knie und japste nach Luft.
Naomi steckte die erbeutete Waffe in den Bund ihrer Jeans und begegnete Liz’ Blick aus zusammengekniffenen Augen. »… hereinkommen«, war die gerade erst mit ihrem Satz fertig. »Das war jetzt wirklich nicht nö…«
»Aus dem Weg, verflucht!«, fauchte Naomi.
Vielleicht war es die zügellose Ungeduld. Oder die tödliche Drohung in ihren Worten, die Naomi abzumildern nicht für notwendig hielt.
Vielleicht waren es auch die wilden Zeichen, die Jessie machte, wie Naomi aus dem Augenwinkel sah.
Liz ging der Jägerin aus dem Weg.
Die Wut, die Naomi verspürt hatte, flackerte noch, ehe sie erstarb. »Gemma.«
Phins Mutter war leichenblass; ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, neben Schweißperlen überall auch Blut. Sie lag auf dem Rücken, die Locken klebten ihr an Stirn und Wangen. Ihre Haut war fast durchscheinend, von blauen Adern durchzogen.
Ihre Brust hob und senkte sich angestrengt; ihr Atem ging rasselnd.
Gemma lag in Lillians Armen und starb.
Neben der schmallippigen Liz sank Naomi auf die Knie, streichelte mit der Hand über Gemmas feuchte Wange. »Scheiße!«, war alles, was sie herausbrachte. Alles, was ihr durch den Kopf schoss, während Phins Mutter vor ihr lag und verblutete.
Gemmas papierne Augenlider flatterten. Keuchend hob sie eine blutbefleckte Hand. »Naomi?«
Naomi ergriff die Hand, hielt sie fest umklammert. »Ich bin hier«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich bin gleich neben Ihnen. War das Carson?«
»Ist …« Gemma hustete, krümmte sich vor Schmerzen. Naomi wusste, dass die Schmerzen schlimm waren, überall in ihrem Körper. In ihr brannten, sie bei lebendigem
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