Blutschuld
geheimnisvollen Bücher lesen könnte, den Wust aus Bildern und Wörtern tatsächlich verstünde.
Naomi rekelte und streckte sich. Und erstarrte.
Plötzlich zitterte sie am ganzen Leib. Sie berührte ihre Lippen, ihr Gesicht, die weiche Decke in ihrem Schoß.
Es lief ihr kalt den Rücken hinunter.
»Bist du wach?«
Die Stimme schlug in ihrem Schädel ein wie ein Vorschlaghammer, gemacht aus Erinnerungen, die verschüttet gewesen waren, bis sie jetzt hervorgezerrt wurden. Warm, ernst, geduldig, sehr männlich klang diese Stimme. Sie versetzte jede von Naomis Nervenzellen in Aufruhr. Augenblicklich rutschte sie von der Couch herunter, suchte dahinter Deckung. Sie wusste, was sie jetzt erwartete und fürchtete sich davor.
Mochte nicht daran denken vor Furcht und Abscheu.
Tränen überschwemmten ihre Augen. »Daddy.«
Katsu Ishikawa sah nicht von dem Blatt Papier auf, auf das er Zeile um Zeile in seiner gestochen klaren Handschrift warf. Vom Feuer im Kamin floss flackernd goldenes Licht auf sein schmales, eckiges Gesicht und fing sich in seinem schwarzen, streng zurückgekämmten Haar. Seine Augenbrauen bewegten sich auf und ab während er sprach, auf und ab. Naomi liebte diesen Zug.
Auch jetzt bewegten sich seine Augenbrauen. Sie zogen sich über der Nasenwurzel zusammen; eine steile Falte furchte die Stirn zwischen ihnen. »Warum bist du hier?«
Naomi atmete ein, ganz flach, denn es tat weh, so eng war ihr um die Brust. »Ich weiß es nicht.«
»Inakzeptabel.« Ihr Vater leckte sich in einer durch viel Übung geschmeidig gewordenen Bewegung Daumen und Zeigefinger und blätterte die Seite um. Ohne von seinem Brief aufzublicken, sagte er: »Was willst du von mir?«
Zu viel.
Nein . Gerade genug. Naomi ballte die Fäuste. »Jetzt ist es zu spät.«
»Ist es das?«
»Du bist tot!«, fauchte sie.
»Aha.« Immer noch hob er den Blick nicht von dem Brief, den er verfasste. Er unterschrieb die Zeilen mit derselben ordentlichen lesbaren Unterschrift, mit der er alles unterschrieb. Er stand auf, rückte das maßgeschneiderte Jackett seines Anzugs zurecht, in dem er heute wie stets so gut, so vornehm aussah, so distinguiert.
Naomi ging um die Couch herum, wusste, dass sie ihren Vater mit starrem Blick fixierte. Ihre Augen weideten sich an jeder Einzelheit seiner feinen Gesichtszüge, seiner ganzen Gestalt. Alles, was sie sah, war ihr so vertraut.
Die hohen Wangenknochen, scharfkantig, wie aus Stein gemeißelt. Die Linie von Unterkiefer und Kinn, nicht besonders männlich eckig und dennoch perfekt. Seine Nase, gerade und kräftig, ganz wie ihre eigene.
Zur Hälfte ein Abbild ihrer selbst.
»Warum bin ich hier?«, flüsterte sie.
Sorgfältig stieß ihr Vater den Stapel Blätter auf seinem Schreibtisch zusammen, legte sie exakt parallel zur Kante wieder ab. Er zupfte seine Manschetten zurecht, versicherte sich, dass sie genau richtig saßen.
Er war immer ganz genau bei allem, was er tat. Was sein Arbeitszimmer anging, seine Termine, seinen präzise abgesteckten täglichen Zeitplan, seinen Brandy am Abend.
Er sah nicht zu Naomi herüber, während er den Computer herunterfuhr. »Das ist eine ausgezeichnete Frage. Warum sollte ich eine Antwort darauf haben?«
Naomi zuckte zusammen. »Du bist mein Vater.«
»Ach, bin ich das?«
Naomi schnappte nach Luft. Wut köchelte langsam in ihrem Bauch hoch. Kochte sprudelnd. »Du weißt, dass du mein Vater bist.«
»Aber was ist ein Vater, Naomi? Ist es eine Frage der Gene, der Spermienzahl? Ist das alles, was einen Vater ausmacht? Oder ist ein Vater nur eine bloße Erinnerung?«
Immer noch hatte er nicht einen Blick für Naomi. Er hatte nur Augen für das, was er zu tun hatte, während er um den Schreibtisch herumging. Die Teppiche auf dem Boden dämpften Katsu Ishikawas Schritte, während er am Fenster die Vorhänge zuzog.
Naomi schüttelte den Kopf. »Du hast mich aufgezogen.«
»Wie lange denn, Kleines?«
Fünf Jahre lang. Den allgemeinen Gepflogenheiten nach war das nicht sonderlich lang. Naomi hob das Kinn, ihre Kiefer mahlten. »Du hast mich geprägt.«
Die Hand am Vorhang erstarrte. Jetzt, ganz langsam, wandte ihr Vater den Kopf und begegnete ihrem anklagenden Blick.
In seinen Augen stand Bedauern. »Das«, sagte er höflich, freundlich, »tut mir aufrichtig leid. Ich hatte gehofft, dass fünf Jahre zu wenig Zeit wären, um sich an mich zu erinnern.
»Wie bitte?« In einer Geste ohnmächtiger Empörung breitete Naomi die Arme aus. Sie zitterte. Denn es tat
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