Blutschuld
aus. Ihre Augen brannten vor wacher Konzentration, viel zu viel davon für eine Fünfjährige.
Viel zu viel Wissen.
Viel zu viele ungeweinte Tränen.
Es würden Jahre vergehen, ehe ein Mann den Damm durchbräche, hinter dem die Tränen sich stauten. Es würden Jahrzehnte des Stillstands, der Erstarrung vergehen.
Naomi schluckte schwer und erinnerte sich an das, was sie vergessen hatte. Was sie tief in ihrem Herzen immer gewusst hatte. »Eure Fehler sind nicht meine Schuld«, hauchte sie. »Ihr habt recht. Aber ich kann meine Fehler wiedergutmachen, und verdammt, ich werde sicher nicht die einsame und verkorkste Frau, zu der meine Eltern mich gemacht haben.«
»Oh, Schätzchen …«
»Du musst gehen«, sagte das kleine Mädchen ernst und feierlich mitten in Abigails Lachen hinein, das ihr von den Lippen perlte. »Du musst zurück, ehe es zu spät ist.« Stiefel trampelten durch die Empfangsdiele, Rufe hallten von den Wänden wider, Sirenen durchstachen die geisterhafte Einsamkeit und Stille. Innerhalb weniger Minuten strömten Rettungssanitäter, Polizisten und Hausangestellte herein, in einer Welle aus organisiertem Chaos.
Naomi schüttelte den Kopf. »Aber wie?«
Mit ernstem Gesicht wich das kleine Mädchen mit Naomis Gesicht den Erwachsenen aus, wich vor ihnen zurück bis zur Wand und drückte sich dagegen. Sie sah zu, wie die Leiche ihres Vaters vom Seil geschnitten zu Boden sackte, ein willenloser Haufen Fleisch und Knochen. Das aufgedunsene Gesicht noch einmal in Bewegung, als liefe ein Zucken darüber hinweg. Dann eine starre, geäderte Maske aus Stein.
Tot.
»Ich weiß es nicht«, antwortete die Kleine.
Eine heiße Träne lief Naomi die Wange hinab. Die Kleine blickte sie an. Ihre Augen folgten der Träne, wie sie das Kinn entlanglief und hinabtropfte auf Naomis Hand.
Die Kleine verzog den Mund. »Wie weiß man, wohin man gehört?«
Naomi schloss die Augen. Fest ballte sie die Fäuste, ihre Fingernägel bohrten sich tief in die schwieligen Handballen. Sie setzte alles daran, sich zu erinnern.
Zu vergessen.
Irgendwo tief in ihrem Gedächtnis, in einer verborgenen Nische, begegneten ihr warme braune Augen, Grübchen bei einem Lachen, einem Lächeln. Ein Lächeln, das Naomi zu Herzen ging.
Phin. Dorthin, zu ihm gehörte sie. Zumindest im Hier und Jetzt, zumindest für die Zeit, die es brauchte, um Abschied zu nehmen, einander Lebwohl zu sagen.
Mehr, als sie je für einen anderen Mann, einen anderen Menschen getan hatte.
»Man weiß es einfach«, flüsterte Naomi. Bebend holte sie tief Luft.
Und roch Chlor.
Sie öffnete die Augen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Es gab so viel zu bedauern, so viel zu betrauern, was sie viel zu lange verdrängt und aufgestaut hatte. Jetzt aber brach alles aus ihr heraus. Wellen warmen Wassers umspülten sie; blutrot war das Wasser im Becken, ein See aus dampfendem Blut. Naomi schluchzte in die Stille, die keine Worte kannte. Alles war so schwer, so niederdrückend. Alles war so unfair. Sie klammerte sich an Gemmas leblosen Körper, während tiefer Kummer aus einem lange vergessenen Winkel ihrer Seele strömte, weil der Damm gebrochen war, der ihn dort gehalten hatte.
Sie trauerte aus tiefstem Herzen, einem Herzen, das zu haben Naomi lange geleugnet hatte.
Fest legten sich Hände auf ihre Schultern, stützten Naomi, gaben ihr Kraft. »Ich weiß«, murmelte Jessie in Naomis Haar. »Lass es raus. Es ist gut so. Alles wird gut.«
Vielleicht stimmte das. Vielleicht würde es eines Tages tatsächlich so sein.
Eine schrille Rückkopplung zerriss die Stille in akustische Fetzen. Über ihren Köpfen summten Lautsprecher. »Hier spricht Phin Clarke, Carson.«
Seine Stimme zersplitterte zu zigfachen Echos an den Wänden und rüttelte an Naomis Kummer und Trauer. Er klang so ruhig und gefasst, so gelassen.
»Ich weiß, dass Sie noch irgendwo im Gebäude sind. Sie halten unschuldige Menschen als Geiseln fest. Erlauben Sie ihnen das Gebäude zu verlassen, ehe das Feuer weiter um sich greift, und ich geben Ihnen, was Sie verlangen!«
Naomi holte tief, wenn auch zittrig Atem, als Lillian am Beckenrand aufschluchzte.
»Das kommt unerwartet«, meinte Jessie.
Ganz sanft, ganz langsam und tieftraurig ließ Naomi die Frau los, an die sie sich geklammert hatte. Gemma hatte etwas in ihr gesehen, das Naomi selbst nicht erkennen konnte. Sie wusste nicht einmal, was. Vielleicht würde sie es eines Tages erfahren.
Aber sicher nicht heute.
Sie sah zu, wie Gemmas
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