Blutschuld
das alles andere als freundlich war.
Naomi kribbelte es in den Fingern nach der Waffe im Halfter.
»Du hast die Wahl. Du kannst dich jetzt sofort absetzen, untertauchen. Wahrscheinlich wird es dir eine ganze Weile gelingen, zu überleben. Aber zwischen den Fronten von Mission und Zirkel der Erlöser wird das ganz sicher nicht leicht.«
»Willst du mir Angst einjagen? Oder drohst du mir?« Und wenn dem so sein sollte, warum zum Henker hatte sie sich noch nicht in Bewegung gesetzt? Warum saß sie noch hier, die Beine im Nichts, wo Silas sie nur einmal kräftig schubsen musste und sie stürzte vom Dach?
Alles wäre mit einem schmierigen Blutfleck auf dem Straßenpflaster ein für alle Mal vorbei.
»Nein, Nai, ich sag dir nur, wie es ist.« Er legte ihr eine Hand auf den Rücken. Nur ein Schubs. Sie versteifte sich. Ihr Puls raste. Aber Silas tat nichts weiter, als seine Hand dorthin zu legen.
Eine Geste der Fürsorge. Eine Geste männlichen Trostes.
»Ob’s dir passt oder nicht: Du bist jetzt eine Hexe. Aber du musst nicht allein damit fertigwerden. Es gibt da einen Ort für uns«, erklärte er ruhig, »einen sicheren Ort, eine Zuflucht.«
Naomi schluckte. Sie schloss wieder die Augen und schwieg.
Er nahm die Hand von ihrem Rücken; sofort vermisste sie deren Wärme. Sie spürte sein Seufzen, ebenso wie sie es hörte. »Es gibt jede Menge Fragen, die eine Antwort brauchen, Nai. Jede Menge, was einfach nicht aufgehen will. Zum Beispiel wie der vorherige Missionsleiter ein Hexer sein konnte …«
Naomi riss die Augen auf. »Was?«
»… und warum die Kirche eine Missionarin auf einen anderen Missionar ansetzt«, fuhr Silas fort, ohne auf Naomis schockierte Reaktion einzugehen. »Warum dieser Missionar behaupten konnte, die Kirche habe ihn geschickt, jemand aus den oberen Etagen in der Hierarchie.«
»Davon hatte ich dir gar nichts erzählt«, warf Naomi ein, ihre Stimme so ruhig wie seine.
»Das war nicht nötig. Nai, was ich damit sagen will … ach, Mist, ich kann diesen Scheiß einfach nicht besonders gut!« Silas stand auf, wieder knirschte der Kies unter seinen Stiefelsohlen. Er blickte auf Naomi hinunter. »Schau, eigentlich ist alles ganz einfach: Jess und ich, wir könnten jemanden gebrauchen, der uns zurHand geht. Wenn du uns nicht helfen willst, okay, auch gut. Aber dann wär’s am besten, du setzt deinen Arsch in Bewegung, und zwar jetzt gleich.«
Wieder, ganz sacht, als könnte sie unter dem plötzlichen Gewicht zusammenfahren und in die Tiefe stürzen, legte Silas ihr die Hände auf die Schultern. »Man wird die Sache nie und nimmer ruhen lassen«, sagte er, seine Worte ein düsteres Versprechen.
Naomi kaute auf ihrer Unterlippe herum. Silas wandte sich ab, Schritte, die auf Kies knirschten. Regen tropfte von Naomis Nasenspitze. Mit einer raschen und entschiedenen Bewegung wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Seufzte. »Silas!«
Er blieb stehen. »Ja?«
Sie wollte nicht verloren sein. Sie schloss die Augen, verschränkte die Finger. Sie saß auf der Betonumrandung des Daches. Sie könnte allem ein Ende setzen, das sie so verabscheute. Der dumpfe Schmerz in ihrem Herzen würde aufhören, schlagartig. Aber bewusster als das war ihr, dass sie nicht verloren sein wollte. Dass sie es leid war, verloren zu sein.
Wäre das der Weg, es zu ändern, vielleicht gar für immer?
Sie leckte sich über die Unterlippe. Dann holte sie tief Luft, ein halbes Schluchzen, und öffnete die Augen. »Ich will nicht mehr töten.«
»Ja.« Aus dem Augenwinkel sah sie eine Hand, die ihr sanft die Schulter tätschelte. »Dacht ich mir.«
Lachen schlug die Tränen in die Flucht, die den Damm schon zu brechen drohten. Naomi lachte hysterisch und erleichtert. Sie streckte die Hand aus, suchte seine, verwebte ihre Finger mit seinen. »Du kriegst auch jeden rum.«
KAPITEL 22
»Naomi, warte!«
Die Tür schlug zu und verschluckte, was Silas’ noch rufen wollte. Aber – endlich! – auch das Gewirr aus Stimmen in ihrem Kopf verstummte, das Naomi seit Stunden quälte. Als sie von der Veranda sprang, brachte jede Prellung, jeder Bluterguss und jede Wunde sich schmerzhaft in Erinnerung. Naomi stolperte, fing sich aber sofort wieder und machte, dass sie verdammt noch mal von dem merkwürdigen grünen Haus und seinen noch merkwürdigeren Bewohnern wegkam.
Das war alles Scheiße. Hundekacke, Schweinemist. Jede Art von Dreck, die sich finden ließ. Stand alles zur freien Auswahl.
Komm, mach bei
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