Blutschuld
aus Eis. Stimmen brüllten Befehle, Stiefelabsätze knallten über den Marmor, hastende Schritte kamen den Weg entlang. Die Kavallerie, die die Stadt ausgeschickt hatte, war endlich da.
Zu spät.
Naomi starrte auf das Blut im Wasser, das die knorrigen Wurzeln der Weide umspülte. Auf die Leiche, die auf dem Wasser trieb, eine harmlose leergeblutete Hülle, so willenlos und nutzlos wie eine zerbrochene Puppe.
Auge um Auge.
Langsam wandte Naomi sich ab. Sie ging den Weg zurück, hob kaum die Füße, plötzlich unendlich erschöpft. Sie erreichte Phin, den die Rettungssanitäter gerade auf eine Trage schnallten. Sie legten ihm einen Druckverband um die verletzte Schulter, riefen sich dabei Dinge zu, die irgendwo in Naomis Verstand widerhallten. Ferne Erinnerungen.
Infusion legen!
Schneid’ ihn runter vom Seil!
Phin bewegte sich, schüttelte entschieden den Kopf, als man ihm Fragen stellte, sogar als sich die Trauer mehr und mehr in seine Züge schlich. Sein Mund ein schmaler weißer Strich. Naomi wusste, dass er Schmerzen litt, sie kannte es. Allein mit Willenskraft hielt er den Schmerz zurück und bewahrte die Fassung.
Seine Mutter war tot. Er hatte seine Liebe – oh Gott, wie hatte er so dumm sein können? – einer Frau gestanden, die eine eiskalte Killerin war, und die Welt, wie er sie kannte, verbrannte um ihn herum zu Asche.
Blut war einfach nicht seine Farbe.
Würde es niemals sein, ihm nie stehen, ihm, diesem mutigen, verdammt blöden Idioten.
Und damit war es vorbei. Einfach so, war jetzt alles vorbei. Mit Kugelhagel und Blutvergießen, genau so, wie Naomi immer schon gewusst hatte, dass es enden würde.
Nur war dieses Mal viel zu viel Blut vergossen worden. Überall war Blut. Klebte an ihr. An ihm.
Klebte an jeder Mauer, jeder Gitterstange dieses verfluchten goldenen Käfigs.
Über Hände in Einmalhandschuhen hinweg, die aufgeregt über seinen Körper und die blutige Kleidung huschten, um zu helfen, suchten Phins dunkle Augen Naomis Blick und hielten ihn fest.
Ihr krampfte sich das Herz zusammen, unerträglich der Schmerz, die Seelenqual, als Phins Blick anklagend auf ihr lag. Vorwürfe, Furcht, Schmerz, Entsetzen. Naomi hätte sich echt Sorgen um ihn gemacht, wäre nicht auch Abscheu dabei gewesen.
Phin wäre nicht er selbst gewesen, wäre er ungerührt geblieben.
Naomi lächelte. Sie wusste, wie schief dieses Lächeln geriet, wie tief ironisch es war. Der Härte ihrer Gesichtsmuskeln nach zu urteilen, war es ein enorm angestrengtes Lächeln. Naomi legte zwei Finger an die Lippen und warf Phin einen Luftkuss zu.
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
Wortlos wandte Naomi sich ab und ging davon.
KAPITEL 21
Silas fand sie. Naomi hatte gewusst, dass er nach ihr suchen würde. Und da war er.
Es hatte nicht sonderlich lang gedauert, bis er sie gefunden hatte. Es gab ja nicht viele Orte, an denen Naomi Zuflucht suchte, wo keine Menschenmassen waren. Jedenfalls nicht, wenn sie nicht bereit war, sich in Kunstleder, Metall und Sex zu kleiden, in die Masse der Verzweifelten und Einsamen einzutauchen und sich ihren pulsierenden, lebenshungrigen Rhythmen zu ergeben.
Menschen aber wollte Naomi nicht.
Also saß sie auf dem Dach ihres heruntergekommenen Appartementblocks, tief im Herzen der Stadt, die sie so sehr verabscheute, als die Nacht im Gefolge der abziehenden Unwetterfront und als Vorbote der nächsten anbrach.
Hoch droben, wo die Wolken den Blick auf die Wohn- und Bürotürme der Oberstadt nahmen, flackerte und pulsierte golden ein Lichtschein. Ein feuriger Herzschlag in der Dunkelheit.
Hinter Naomis Rücken knirschte Kies unter Stiefelsohlen. »Der Wind hat sich gelegt. Das Feuer wird nicht auf andere Gebäude überspringen.«
Naomi schwieg, statt zu antworten. Was hätte sie auch sagen sollen? Das ist gut schien ihr eine leere Phrase, unaufrichtig. Zu sagen, dass es besser wäre, die ganze Stadt brenne nieder, schien ihr zu … brutal.
»Du hast Agatha und die beiden anderen ausgeschaltet. Wenn es im Zeitlos noch mehr Erlöser gegeben haben sollte, sind sie entweder verbrannt oder untergetaucht.«
Naomi starrte auf die schwarze Wand aus himmelhohen, an den Wolken kratzenden Türmen der Stadt und schwieg immer noch.
Silas in ihrem Rücken seufzte.
Silas Smith war ein Mann von unglaublicher Präsenz. Selbst wenn Naomi ihn, seine Schritte, seine Stimme, nicht gehört hätte, hätte sie ihn allein schon daran erkannt, wie viel Druck sie in ihrem Rücken spürte. Silas war
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