Blutschuld
einem wattierten, stoffbezogenen Kleiderbügel daher.
»Probieren Sie doch bitte das«, verlangte Andy von ihr, um ihr dann eilig das Kleid in die Hand zu drücken. »Das muss ein bisschen schneller gehen, meine schöne Göttin. Warten Sie, ich helfe Ihnen!« Und ehe Naomi dieses Mal protestieren konnte, trat Andy auch schon in die geräumige Kabine. In der Zeit, die Naomi brauchte, um die Augen zu rollen, hatte Andy sie mit fliegenden Händen und einer ordentlichen Portion Unverfrorenheit bereits bis auf die Unterwäsche ausgezogen.
»Wow!« Andy stemmte die Hände in die Hüften und begutachtete Naomi von den Füßen mit den gepflegten Zehennägeln bis zum zerzausten Schopf auf ihrem Kopf. Die rote Spitze von BH und Slip, eine Nuance dunkler als das Rot von Andys Anzug, hob sich in perfektem Kontrast von Naomis blasser Haut ab. »Sie sind wirklich hinreißend!«
»Ich bin …« In dem Versuch, das richtige Wort zu finden, schürzte Naomi die Lippen.
»Überwältigt?« Andy nahm Naomi den Tafttraum wieder aus der Hand und hatte schon den verdeckten Reißverschluss, den Naomi nicht einmal bemerkt hatte, geöffnet. »Verwirrt? Etwas aus dem Konzept?« Wieder verzog die Designerin die Lippen zu einem ironisch-amüsierten Lächeln und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Ja, so fühlt sich das an, wenn man mit Phinneas Clarke ausgeht!«
»Nackt«, berichtigte Naomi die Frau ihr gegenüber. Ihr Ton war bestimmt. »Ich bin nackt. Das ist, was ich habe sagen wollen.«
»Fast nackt«, meinte Andy daraufhin und hielt Naomi das Kleid so hin, dass sie nur noch hineinzusteigen brauchte. »Wunderschön in Ihrer Konfusion. Wenn ich meine Kamera dabei hätte …«
»… würde ich sie Ihnen in den Hals rammen!«
Andy lachte auf, kurz und knackig, voller Elan. Naomi kämpfte gerade mit dem Kleid, sodass sie keinen Blick für die andere Frau hatte. »Ich mag sie, Phin!«
»Sie gehört mir!«, hörte Naomi von jenseits des Ankleidezimmers.
Naomi schnaubte, das Gegenstück zu einem Augenverdrehen. Gleich darauf, als ihr Blick in den dreiteiligen Spiegel fiel, fuhr sie zusammen. Taft umschmeichelte ihre Figur, der geschmeidige Fall der Seide, die in schlichter Eleganz die Linien ihres Körpers betonte, unterstrich die Fülle an hauchdünnem Stoff, der an der Schulter gerafft war. Von dort fiel er gerade herunter, rahmte den Rücken ein, fiel auf ihre Hüften, um dann als weiche Welle zu Boden zu fließen.
Luxus pur. Dekadent.
Sie gehört mir . Phins Worte. Verwundert blickte Naomi in den Spiegel.
»Herrje, nein!« Andy blickte entsetzt drein. »Raus aus dem Kleid, aber schnell!«
Naomi fügte sich, und fragte mit einem Anflug von Heiterkeit: »Ist das ein Kleid, das Sie entworfen haben?«
»Alle Kleider hier sind von mir, Schätzchen, und … he, Phin? Keine Raffungen, keine Puffärmel, nichts dergleichen!«
»Ich bin längst ganz von Taft weg.«
Naomi schaute in den Spiegel, um Phins Blick zu begegnen. Er stand unter dem Türsturz, eingefasst vom schwarzen Lack des Türrahmens in einem Meer aus Farben und Stoff. Aber es war sein Lächeln, eines, das sich langsam über seinem Gesicht ausbreitete und einen prüfenden Blick begleitete, der Naomis Magen in Aufruhr versetzte.
Lächerlich, das Ganze. Hier ging es doch nur um ein Kleid!
Naomi straffte die Schultern und tat den letzten Schritt heraus aus dem Kleid, das Andy für sie hielt. Langsam drehte sie sich um, setzte nackte Arme und Beine dabei ebenso wirkungsvoll in Szene wie den flachen, festen Bauch, dessen Muskeln sie anspannte.
»Ich wusste gar nicht, dass du dich mit Kleidern auskennst.« Ihre Stimme klang kehlig, der Tonfall anzüglich, spöttisch. Sie blickte Andy an und fragte mit so viel Ernst, wie ihr möglich war, nur um Phin zu ärgern: »Ist er etwa schwul?«
Andy machte sich fast in die Hosen vor Lachen. »Nein«, haspelte sie schließlich hervor, »herrje, nein! Dieser Mann hat einfach nur Geschmack und ein untrügliches Gespür für den richtigen Stil. Vor allem dafür, was den Körper einer Frau am vorteilhaftesten zur Geltung bringt.«
Phins Blick wanderte über Naomis Gesicht. Ihren Mund. Der Blick strich, als wären es seine Hände, über ihre weiblichen Kurven. Naomi hätte schwören können, sie spürte seine Hände tatsächlich dort, überall auf sich.
Rote Spitze und aufgeheizte Haut.
Naomi hob das Kinn. Sie wusste, dass es ein ganz und gar vergebliches Unterfangen war. Dennoch legte sie die Hand auf die Spitze des
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