Blutschwestern
Greif in seiner seltsam gestelzt klingenden
Art zu sprechen.
Tojar wurde das Herz schwer. Nun musste er diesem sterbenskranken Mädchen und dem einfältigen Greif auch noch erklären, dass
Ilana tot war. »Wir sind gegen Dungun gezogen und wurden geschlagen …«, begann er vorsichtig. »Königin Ilana wollte ihre Schwester
Akari befreien, doch sie fiel dem Hohepriester Karok in die Hände und wurde getötet. Es … tut mir leid. Die Taluk machen Rast
in den Wäldern von Isnal, dann holen wir unsere Frauen aus Engil und kehren zurück ins Taligebirge. Wir konnten den Menschen
von Engil keine neue Hoffnung bringen. Wir haben versagt.«
Er sah, wie Nona ihm ihren Kopf zuwandte, und konnte ihr kaum in die Augen schauen.
»Ilana lebt …«, hörte er sie sagen, »sie hat mich gerufen. Sie ist in Dungun, aber sie ist in Gefahr. Ich muss sie retten.«
Tojar schüttelte heftig den Kopf. »Nein, sie ist tot. Mador, mein erster Berater, war bei ihr. Er blutete aus vielen Wunden,
als er zurückkehrte. Er hat gesehen, wie Karok sie tötete.«
»Sie lebt«, stieß Nona hervor. »Wenn dieser Mador dir gesagt hat, dass sie tot ist, dann hat er dich angelogen. Führe deine
Männer |245| zurück nach Dungun. Dieses Mal werdet ihr siegen, denn ich werde Karoks Macht ein für alle Mal zerstören.«
Tojar sah Nona mitleidig an. Es grenzte bereits an ein Wunder, wenn sie überhaupt lebend in Dungun ankam. Ilana hatte behauptet,
dass sie das mächtige Kind trug, welches die Menschen von Muruks Fluch befreien würde. Doch sie lag im Sterben – das konnte
selbst er erkennen, obwohl er nichts von Heilkunde verstand. Er wusste jedoch, wie Menschen aussahen, die mit dem Tode rangen,
und Nona war dem Tode näher als dem Leben.
»Du solltest sie nach Engil zurückbringen«, sprach er den Greif an.
»Nein!« Der Greif schüttelte den Kopf. »Nona braucht Dawons Kraft, ohne ihn kann sie nicht nach Dungun gelangen.«
»Einfältiger Greif … wenn ihr unbedingt sterben wollt, dann geht nach Dungun. Ich werde das Leben meiner Krieger nicht für
eine aussichtslose Sache opfern. Besser, unter Muruk leben, als unter ihm sterben.«
Mit diesen Worten wandte Tojar sich um, denn er verspürte nichts als Scham und Kummer über sein Versagen in Dungun. Selbst
eine todkranke Frau besaß mehr Hoffnung als er, doch sie war krank, und ihre Gedanken waren wirr. Er würde seine Krieger nach
Hause führen, das war er ihnen schuldig.
Tojar ging zurück ins Lager. Der Greif folgte ihm zum Glück nicht. Die Niederlage, der Verlust Ilanas und die Hoffnungslosigkeit
seines Volkes bedrückten ihn. Ilana sollte noch leben! Wie kam dieses Mädchen nur darauf? Hatte sie ihr einen Boten nach Engil
geschickt? Erst vor zwei Tagen hatten sie in Engil gekämpft. So schnell konnte kein Bote sein. Sicher, der Greif mit seinen
Schwingen konnte in einem Tag zwischen Dungun und Engil wechseln, wenn er kräftig und ausgeruht war. Aber Tojar bezweifelte,
dass ein Greif es auch nur in Erwägung gezogen hätte, eine Botschaft von Dungun nach Engil zu tragen, zumal die Greife sich
nur für ihre |246| Beutezüge aus dem Mugurgebirge entfernten. Trotz ihrer Boshaftigkeit waren sie scheu, und selbst die Menschen in Dungun mieden
sie. Warum nur hatte er Nona nicht gefragt, woher sie ihre Behauptung nahm, Ilana würde noch leben?
Einen Fluch auf den Lippen, ging er zum Zelt von Mador. Er musste Gewissheit haben und Mador noch einmal fragen, ob er vielleicht
zu schnell geflohen war, um zu erkennen, dass Ilana nicht tot gewesen war, als er sie zurückließ. Beherzt zog er den Vorhang
des Zeltes beiseite und trat ein. Mador war nicht in seinem Zelt. Er würde einfach auf ihn warten, es gab ohnehin nichts anderes
für ihn zu tun.
Missmutig setzte Tojar sich auf das Ruhelager, denn Mador hatte keine anderen Sitzgelegenheiten in sein Zelt bringen lassen.
Er war schon immer ein Mann gewesen, der Schlichtheit zu schätzen wusste. Wenn man in den Kampf zog, hielt unnötiger Zierrat
nur auf. Tojar suchte nach einer Decke, denn es wurde kalt. Die Feuerbecken waren nicht enzündet worden, und so begann er,
die Truhen zu öffnen und zu durchsuchen, in denen Mador die wenigen Dinge aufbewahrte, die er aus seinem Haus mitgenommen
hatte.
Die erste Truhe war mit Beinkleidern und Hemden gefüllt, die zweite mit Stiefeln. Madors Kleiderauswahl war ebenso bescheiden,
wie es sein Haus im Isnalgebirge gewesen war. Da er keine Frau hatte,
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