Blutschwestern
Stadt genommen war.
|251| Das dunkle Gift
Dawon stieß die Pforte des Tempels auf, ohne von den Wachen Karoks aufgehalten zu werden. Sie wagten es nicht, ihn anzurühren,
weil er Nona im Arm trug. Trotz ihrer Schwäche schienen die Männer sie zu fürchten und hielten Abstand. Karoks Augen glühten,
als er Nona sah. Er machte sich kaum die Mühe, seine Gier zu verbergen.
»Die Kriegerin, die das Kind des Greifen trägt. Ich kann seine Macht aus dir heraus spüren, ich kann Salas Hoffnung und ihre
Verzweiflung sehen, die sie in dieses Kind gelegt hat.« Er wies auf Dawon. »Der Greif ist nicht wichtig! Wenn ich sie habe,
tötet ihn. Seine Aufgabe ist erfüllt, die Macht Salas ist auf die Frau übergegangen.«
Nona bedeutete Dawon stehenzubleiben. »Bring mich hinaus auf die Tempelstufen und leg mich dort ab. Dann fliehe und suche
Ilana. Bringe sie aus Dungun fort.«
Dawon machte keinerlei Anstalten, auf sie zu hören. »Dawon bleibt bei Nona. Er wird sie nicht allein lassen.«
»In diesem Tempel nutzen dir deine Schwingen nichts. Ich habe gesehen, wie hilflos Greife sind, wenn sie nicht den Himmel
über sich haben. Du musst jetzt tun, was ich sage, Dawon …«, sie legte ihren Arm enger um ihn, »… mein Gefährte … du hast
mir etwas versprochen. Du musst überleben, egal, was geschieht. Du wirst das Kind schützen müssen, wenn es geboren ist – und
es wird geboren werden, das schwöre ich, Karok wird es nicht bekommen.«
»Dawon kann Nona nicht einfach hier lassen«, sprach er traurig. Wenn er hätte Tränen vergießen können, hätte er es wohl in
diesem |252| Moment getan. Schließlich wich er zurück und legte sie sanft auf der obersten Stufe des Tempels ab, immer beobachtet von Karoks
Kriegern. Sie kamen bis auf fünf Schritte an sie heran, und Nona flüsterte ihm zu, dass er nun gehen sollte. Er richtete sich
schließlich auf, und Karoks Wachen hoben ihre Speere. Ehe sie jedoch etwas hätten tun können, stieß Dawon hinauf in den Himmel.
Nona sah ihn höher steigen, seine dunklen Schwingen entfernten sich immer weiter von ihr, und sie spürte Kälte und Haltlosigkeit,
als sie seines Schutzes beraubt war.
»Komm zu mir, Kriegerin, ich habe bereits auf dich gewartet«, sagte Karok, der zum Eingang des Tempels gekommen war.
Nona schenkte ihm ein verächtliches Lächeln und spürte, wie sich Atemnot in ihr ausbreitete. Ohne Dawon war sie kaum in der
Lage, auch nur einen Arm zu heben. »Du musst schon selber kommen, Hohepriester des Muruk. Wie du siehst, bin ich kaum in der
Lage, mich aus eigener Kraft zu bewegen.« Sie lag da und sah ihn an. Seine Krieger wagten nicht, ihr zu nahe zu kommen. Auch
Karok schien unentschieden. Die Gier nach Macht siegte jedoch, und so schritt er langsam auf sie zu. Karok trug einen Dolch
in der Hand, und Nona fürchtete, er würde ihr vielleicht das Kind aus dem Leib schneiden, ehe sie ihn zu fassen bekäme, doch
stattdessen schnitt er sich in die Hand. Tropfen fast schwarzen Blutes quollen aus der Wunde.
Er beugte sich zu ihr hinunter. »Mein Blut ist es, das die Menschen zu Dienern Muruks macht; und wenn du davon kostest, wirst
auch du eine Dienerin Muruks werden … und mit dir dein Kind. Eine mächtige Waffe, die Sala geschickt hat, uns zu vernichten,
wird Muruk gehören.«
Nona sah seine Hand und wusste, dass sie handeln musste. Sie wusste nicht, was geschehen würde … aber hatten nicht auch die
Greife das dunkle Gift in sich getragen? Sie schloss die Augen und öffnete die Lippen.
Tu was, du willst
, sprach sie stumm zu ihrem Kind.
|253| Als der Priester ihr seine Hand auf den Mund drücken wollte, nahm Nona ihre letzte Kraft zusammen und warf sich ihm entgegen.
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, wie sie es stets bei Dawon getan hatte, und presste ihren Mund auf seinen. Spitze Zähne
gruben sich in ihre Lippen, sein fauliger Atem schlug ihr entgegen, und Karok zerrte sie mit sich auf die Beine, als er sich
von ihr losreißen wollte. Nona umklammerte ihn wie einen Geliebten, und dann spürte sie, wie ihr Hals sich immer mehr zuschnürte.
Sie trank die Dunkelheit aus den Tiefen seines grausamen Herzens, sie sog die Boshaftigkeit des Priesters in ihren Körper
und fühlte, wie ihre Beine immer schwerer wurden. Nonas Geist wurde mit einer Heftigkeit aus ihrem Körper geschleudert, die
sie nicht erwartet hatte, und verlor sich in einem Strudel aus Wahnsinn und Chaos.
Die Gegenwehr des Hohepriesters erstarb;
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