Blutskinder
hatte Robert Rubys junges Gesicht vor sich gesehen, noch ganz warm und rosig vom Schlaf. Er stellte sich vor, wie sie in ihrem verwaschenen geblümten Nachthemd auf bloßen Füßen in die Küche tappte, Fruchtsaft direkt aus dem Karton trank, sich Frühstücksflocken mit Schokolade in eine Schale schüttete und sich mit untergeschlagenen Beinen vor dem Fernscher niederließ. Er sah ihr dichtes schwarzes Haar, zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden, und die verschmierten Reste des Augen-Make-ups, das sie am Abend zuvor ausprobiert und vor dem Schlafengehen nicht abgewaschen hatte. Sie würde sich durch die Programme zappen und über ihre Zukunft nachdenken, die morgen beginnen sollte. Sie würde lächeln, denn endlich, nach vielen Jahren, war sie in Sicherheit.
Und dann würde ihre Mutter ihr mitteilen, dass sie doch nicht aufs Greywood College gehen durfte, sondern wieder in ihre alte Schule zurückmusste, wo man sie so gequält hatte. Den vollen Löffel in der Hand würde Ruby aufblicken und mit einem unsicheren Lächeln »Guter Witz, Mum« sagen. Doch wenn sie Erins ernste Miene bemerkte und die harten Linien um ihren Mund, würde Ruby erkennen, dass ihre Mutter keinen Spaß gemacht hatte. Und wenn Erin ihre Worte wiederholte, würde Ruby aufstehen, mit einer fremden Stimme und in ungläubigem Tonfall »Mum?« sagen, zu Erin hinübergehen und halb trotzig, halb ungläubig schnauben. Und dann würde das Gezeter losgehen.
»Ruby geht nicht nach Greywood!«, schrie Robert Den über das Rauschen des Wassers hinweg zu. Er war von Kopf bis Fuß eingeseift, als der Duschvorhang aufgerissen wurde. »Was hast du gesagt?«, fragte Den, der sich gerade die Ohren abtrocknete. Robert spülte die Seife ab und band sich ein Handtuch um die Taille.
»Es wird nichts mit Greywood«, wiederholte er mit einem schiefen Lächeln. Die beiden Männer zogen sich schweigend an. Den wollte mit weiteren Fragen warten, bis sie beide ein Bier vor sich stehen hatten. Zehn Minuten später saßen sie an einem Tisch in der Clubbar.
»Hat Ruby kalte Füße bekommen?« Den ließ den Blick durch den Raum schweifen und nickte einigen Leuten zu. So war das immer mit ihm – man genoss nur selten seine volle Aufmerksamkeit. Dabei brauchte Robert jemanden, mit dem er wirklich reden, ein richtiges Gespräch führen konnte.
»Wir finden, dass Weglaufen feige ist. Wir wollen noch mal mit dem Direktor der alten Schule reden. Vielleicht schaffen wir es, dass er endlich mal ein paar Leuten in den Hintern tritt.« Robert leerte sein Bierglas in drei Zügen.
»Das machst du ja doch nicht.« Wieder wanderte Dens Blick umher. Zwei attraktive junge Frauen Anfang zwanzig gingen dicht an ihrem Tisch vorbei, die kurzen Röcke auf Augenhöhe der beiden Männer. »Hast du die gesehen?« Den holte tief Luft. »Super.«
»Aber Erin. Sie wird schon dafür sorgen.« Robert rieb sich mit den Händen übers Gesicht, und Den wusste Bescheid.
»Es ist also Erin, die nicht will, dass Ruby auf diese neue Schule geht.« Es fiel Den nicht schwer, sich alles zusammenzureimen. Schließlich war er schon seit dem Jurastudium mit Robert befreundet und kannte ihn durch und durch. »Wovor hat sie denn Angst? Du bezahlst doch das Schulgeld.«
Robert seufzte. Jetzt musste er doch noch mehr erzählen. »Wir sind uns nicht mehr sicher, ob es eine Privatschule sein muss. Du weißt schon, Ruby soll sich nicht für etwas Besseres halten.« Um das Gespräch zu beenden, schlug er die Hände zusammen und fragte: »Nehmen wir noch eins?«
Aber Den war schon aufgestanden. Er ergriff die Gläser und ging damit zur Theke.
Andererseits, dachte Robert, soll Ruby etwa glauben, sie sei weniger wert als andere Kinder?
Wenn er wollte, konnte er den ganzen Nachmittag mit Den hierbleiben und sich bei ein paar Gläsern Bier die Sorgen von der Seele reden. Sie würden über alte Zeiten plaudern und anstehende Fälle besprechen. Robert lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Als guter Vater hätte er Ruby beistehen müssen, wenn Erin ihr die schlechten Neuigkeiten mitteilte, aber dazu war er zu feige. Stattdessen verkroch er sich hier mit Den, bis sich zu Hause der Sturm verzogen hatte. Dann würde er versuchen, den Schaden wiedergutzumachen.
Er überlegte, ob er Ruby für ein paar Tage mit in die Kanzlei nehmen sollte. Dann hätte sie ein wenig Zeit, um über die Enttäuschung hinwegzukommen. Sie könnte privat Unterricht bei einem Nachhilfelehrer nehmen
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