Blutskinder
leichten Kuss auf ihre Wange und ging ins Bett.
Nach einem kurzen, unruhigen Schlaf sah Robert nur zu bald, wie die Morgendämmerung den Himmel orangerosa färbte. Ihm wurde das Herz schwer, als ihm einfiel, dass Montagmorgen war.
»Schick sie bitte heute noch nicht wieder in die alte Schule.« Robert rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Es fiel ihm schwer, jemanden um etwas zu bitten. Er drehte sich zu Erin um und fuhr fort: »Ruby kann erst mal mit mir in die Kanzlei kommen.«
Zu seiner Überraschung nickte Erin. »Ich rufe in Greywood an und erkläre ihnen die Situation.«
»Das erledige ich schon. Ich werde vom Büro aus anrufen.« Erin widersprach nicht. Sie war offenbar nur allzu froh, dass er das Gespräch mit der Schulleiterin übernehmen wollte.
Bevor Robert aufstand, starrte er für eine Weile an die Decke. Konnte er sich jetzt zum ersten Mal als richtiger Vater beweisen? Er schaute zu Erin hinüber, die sich gerade einen cremefarbenen seidenen Morgenrock überzog, und dachte: Oder beweise ich so zum ersten Mal Misstrauen?
Eine halbe Stunde später kam Ruby zu Robert und Erin in die Küche. Sie trug ihre alte Schuluniform, hatte sich mit Make-up, Wimpertusche und Lipgloss geschminkt und sich das Haar mit einem blauen Tuch zu einem Pferdeschwanz gebunden. Zu Roberts Erstaunen lächelte sie.
»Morgen«, sagte sie, ließ ihre Schultasche fallen, riss die Kühlschranktür auf und holte Saft und Eier heraus. »Ich hab einen Riesenhunger«, setzte sie hinzu. »Ihr braucht mich heute nicht zu fahren. Ich bin früh genug dran für den Bus.«
Robert beobachtete sie genau. War das Lächeln wirklich echt? Klang ihre Stimme nicht ein wenig verhalten? Sie schluckte mehrfach – vor lauter Angst? Und blinzelte sie vielleicht aufsteigende Tränen fort? Er ging zu ihr hinüber und wollte sie tröstend in die Arme nehmen.
Ruby duckte sich und wich ihm aus. Sie holte eine Pfanne aus dem Schrank, schlug drei Eier auf und ließ sie in die Pfanne gleiten. Robert musste sich zusammennehmen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihre Zurückweisung seinen Stolz verletzte. Es war geradezu lachhaft, dass ihn dieses Mädchen so zu kränken vermochte.
Während er zusah, wie Ruby die Eierschalen in den Abfalleimer warf, dachte er: Womöglich möchte sie in Wahrheit am liebsten weiter auf ihre alte Schule gehen. Vielleicht hatte Erin recht damit, dass Weglaufen am Ende nur neue Probleme brachte. Was wusste er schon? Er war noch nie zuvor mit Erziehungsproblemen konfrontiert gewesen. Allerdings hatte er die bittere Erfahrung gemacht, dass seine Ängste nur noch größer wurden, wenn er sich ihnen stellte, bis sie am Ende so übermächtig waren, dass sie das Liebste, was er besaß, zerstörten.
Seufzend drehte sich Robert um, lehnte sich ans Spülbecken und schaute in den Garten hinaus. Er war auf der Suche nach Argumenten, mit denen er Erin noch umstimmen konnte, doch gegen seinen Willen gingen seine Gedanken immer wieder zu Jenna zurück. Er sah ihr Bild draußen in seinem Garten, zart und flüchtig wie ein Chiffontuch im Wind. Mit wehendem Haar und einem strahlenden Lächeln stand sie dort unter der Weide. Dann bückte sie sich und zupfte ein Unkrauthälmchen aus.
Was willst du?, fragte er sie in Gedanken. Du gehörst nicht hierher.
Er hasste Jenna, weil sie ihm das antat. Und er hasste sich selbst noch mehr, weil er es zuließ. War seine Trauer denn noch immer so groß? Hatte er sich vor lauter Schuldgefühlen noch immer nicht mit dem Verlust abgefunden?
Der Montagmorgen nahm seinen gewohnten Verlauf, als wenn nichts geschehen wäre. Der Wasserkessel dampfte, Robert blätterte die Zeitung durch, und in der Diele fiel raschelnd die Post auf die Fußmatte. Ruby machte sich ihr Frühstück und fluchte leise, als ein Eigelb in der Pfanne zerlief. Erin sagte gar nichts. Mit leicht geöffnetem Mund und halb geschlossenen Augen stand sie da und beobachtete, wie ihre Tochter das Essen in sich hineinschaufelte. Sie sah aus wie das personifizierte schlechte Gewissen. Jetzt könntest du noch alles wiedergutmachen, dachte Robert. Aber Erin rührte sich nicht.
Da stieß Robert einen tiefen Seufzer aus und sagte: »Ich gehe duschen. Und danach muss ich zur Arbeit.« Während er nach oben lief und dabei immer zwei Treppenstufen auf einmal nahm, tauchte so plötzlich ein beunruhigendes Bild vor seinem inneren Auge auf, dass er stolperte und sich am Geländer festhalten musste. Als wären die ständigen unwillkommenen
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