Blutspur in East End
ist eines der besten Colleges in England, aber das wirst du als gebürtiger Londoner natürlich wissen. Und ich werde mit meiner besten Freundin in einer Wohngemeinschaft zusammenleben.“
Carol war immer aufgeregter geworden, je mehr sie diesem eingebildeten Typen erzählte.
Joe ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Immer cool bleiben, Carol. Das ist der wichtigste Rat, den ich dir geben kann. Zieh dein Ding durch und lass dich nicht beirren – auch nicht von mir.“
„Vielen Dank für deine Weisheit, Opa.“ Sie ärgerte sich eigentlich hauptsächlich über sich, weil sie sich von diesem aufgeblasenen Schwätzer niedermachen ließ. Es konnte ihr doch völlig egal sein, was Joe über sie dachte.
Zum Glück fuhr der Zug nun in den Bahnhof Euston ein. Alle Passagiere standen gleichzeitig auf, als ob ein lautloses Kommando ertönt wäre. Im Gedränge verlor Carol Joe sofort aus den Augen. Sie bedauerte es nicht. Dieser Kerl hatte ihr gründlich die Stimmung vermiest. Außerdem hatte sie mit ihren beiden großen Reisetaschen alle Hände voll zu tun.
Doch Tricia wollte sie vom Bahnhof abholen und konnte dann eine von den Taschen tragen. Beim Gedanken an ihre beste Freundin verflog Carols schlechte Laune. Natürlich hatten sie jeden Tag telefoniert und gechattet, seit Tricia vor ein paar Monaten einen Job in London ergattert hatte. Carol wollte nachkommen, sobald sie einen Studienplatz in der Hauptstadt bekam. Und an diesem Septembertag war es endlich so weit. Das Semester startete erst in einigen Wochen. Carol hatte also genug Zeit, um ihre neue Heimat kennenzulernen.
Aber wo war Tricia?
Carol kam sich etwas verloren vor, nachdem sie auf den Bahnsteig getreten war und auf ihre Freundin wartete. Normalerweise war Tricia immer pünktlich. Es sah ihr gar nicht ähnlich, Carol zu versetzen.
„Ich hole dich selbstverständlich ab, das ist doch klar. Meine Chefin gibt mir morgen den ganzen Tag frei, weil ich so viele Überstunden angesammelt habe“, hatte sie ihr gestern noch am Telefon mitgeteilt. „Außerdem habe ich heute Abend etwas vor. Ich weiß aber noch nicht, ob ich mich das traue. Auf jeden Fall werde ich dir morgen alles darüber erzählen.“
Tricia tat gern geheimnisvoll. Darum hatte Carol nicht versucht, Einzelheiten herauszubekommen. Trotzdem hätte Tricia allmählich auftauchen können. Nervös fuhr sich Carol durch ihr kinnlanges kastanienfarbiges Haar. Ob Tricia verschlafen hatte? Sie nahm ihr Handy und rief die Nummer ihrer besten Freundin im Speicher auf. Doch Tricias Apparat war ausgeschaltet. Carol checkte, ob irgendwelche Anrufe in Abwesenheit auf ihrem eigenen Handy eingegangen waren. Aber niemand hatte versucht, sie zu erreichen.
Auch Tricia nicht.
Nach einer halben Stunde beschlich Carol ein mulmiges Gefühl. Außerdem bekam sie auf dem zugigen Bahnsteig kalte Füße. Sie nahm ihre beiden Reisetaschen und ging zum Informationsschalter von British Rail in der Bahnhofshalle. Vor ihr war ein Osteuropäer an der Reihe, der nur gebrochen Englisch sprach. Carols Geduld wurde auf eine weitere Probe gestellt. Immer wieder versuchte sie zwischendurch, Tricia zu erreichen. Vergeblich. Aber dann stand sie endlich vor der uniformierten Angestellten. „Ich bin mit meiner Freundin verabredet. Wir müssen uns irgendwie verpasst haben. Könnte sie ausgerufen werden?“, fragte sie.
„Selbstverständlich, Miss. Wie heißt denn Ihre Freundin?“
Carol nannte der Service-Mitarbeiterin den Namen. Gleich darauf griff diese zu ihrem Mikrofon. „Achtung! Miss Tricia Lloyd wird gebeten, zur Information in der Wartehalle zu kommen. Miss Tricia Lloyd, bitte!“
Carols Unruhe wuchs. Beim Anblick jeder jungen Frau, die auch nur entfernt Ähnlichkeit mit Tricia hatte, verspürte sie Erleichterung. Doch die Hoffnung wurde jedes Mal zerstört, wenn Carol erkannte, dass es nicht Tricia war. Carol wartete eine Viertelstunde neben dem Informationsschalter. Dann gab sie auf, während sie einen Anflug von Panik unter Kontrolle zu bekommen versuchte.
Offenbar war Tricia überhaupt nicht zum Bahnhof Euston gekommen. Abermals versuchte Carol, ihre Freundin über das Handy zu erreichen, wieder ohne Erfolg. Inzwischen machte sie sich ernsthaft Sorgen. Sie spürte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Carol und Tricia verband eine sehr intensive Freundschaft. Wenn es der einen von ihnen nicht gut ging, spürte die andere das meistens sofort.
Carol beschloss, mit der U-Bahn nach Camden Town zu fahren, wo
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