Blutspur in East End
ihr konnte sie über alles reden. Es gab keinen Menschen auf der Welt, dem sie sich näher fühlte. Noch nicht einmal ihren Eltern.
Der Gedanke an ihre beste Freundin verlieh Tricia neuen Mut. Doch dieser Moment dauerte nicht lange, denn nach einer Weile verspürte sie ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Spielte ihr die Fantasie einen Streich, oder wurde sie tatsächlich verfolgt? In der U-Bahn schien es niemand auf sie abgesehen zu haben. Der Waggon war mit jungem Partyvolk gefüllt. Die Leute fuhren ins West End, wo sich die angesagten Clubs und Discos von London befanden.
Tricia musste an der Station Moorgate umsteigen, um nach Camden Town zu gelangen, wo sie lebte. Immer wieder schaute sich die Zwanzigjährige nervös um. Doch sie konnte niemanden entdecken, der hinter ihr herschlich. Als Tricia in Camden Town ankam, war sie schon wieder etwas lockerer geworden. In den Pubs des quirligen Stadtteils war noch viel los. Musik dröhnte auf den Gehsteig. Ein Streifenwagen der Metropolitan Police fuhr langsam Richtung Chalk Farm. Doch die Nebenstraße der Camden High Street, in der Tricia wohnte, war menschenleer.
Bis auf Tricia und ihren Verfolger.
Er hatte sie nur in Sicherheit wiegen wollen, das begriff sie nun. Die dunkle Gestalt war die ganze Zeit hinter ihr gewesen. Tricia begann zu laufen, aber ihr Verfolger hatte sie bereits eingeholt. Sie riss den Mund auf, um zu schreien, doch die behandschuhte Linke ihres Verfolgers drückte ihr die Kehle zu. Tricia sah das Messer kurz aufblitzen, bevor es in ihren Oberkörper eindrang.
Hilf mir, Carol! Bitte, hilf mir, flehte sie stumm. Dann hatte die ewige Nacht sie für immer geschluckt.
1. KAPITEL
Aufgeregt rutschte Carol Garner auf ihrem Sitz hin und her, wobei sie ununterbrochen aus dem Zugfenster schaute. Den größten Teil der Fahrt von Shrewsbury nach London hatte sie sich mit ihrem MP3-Player vertrieben. Doch nun schaltete sie den Sound der Black Eyed Peas aus.
Die Bahn hatte bereits die Außenbezirke der Hauptstadt erreicht. Und Carol wollte London nicht nur sehen, sondern auch hören, riechen und schmecken. Es kam ihr so vor, als würde plötzlich eine andere Luft durch den Waggon wehen. Sie hatte mehrmals umsteigen müssen, seit sie am frühen Morgen aus ihrem verschlafenen Heimatstädtchen abgereist war.
Der Typ auf der Sitzbank ihr gegenüber grinste spöttisch. Er sah eigentlich gar nicht mal so übel aus, eine Art Justin-Timberlake-Verschnitt. Aber Carol hatte das Gefühl, er würde sich über sie amüsieren, was sie überhaupt nicht ausstehen konnte.
„Was ist denn so lustig? Habe ich einen Pickel auf der Nase?“, fuhr sie ihn entnervt an.
„Das nicht, Kleine. Aber es ist einfach zum Totlachen, wenn eine Provinztussi das erste Mal nach London kommt.“
Carol war gekränkt. „Du hast wohl den absoluten Durchblick, was? Woher willst du denn wissen, dass ich nicht in der Hauptstadt lebe?“
Arrogant zuckte Carols Gegenüber mit den Schultern. „Lebenserfahrung.“
Nun war es Carol, die lachen musste. Lebenserfahrung! Der Typ war gewiss nur ein paar Jahre älter als sie, also allerhöchstens fünfundzwanzig. Und er führte sich auf, als ob er schon den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hätte. Carol konnte auch ironisch sein, wenn sie wollte.
„Du musst ja echt ein weiser alter Mann sein. Hast du dich liften lassen? Wie heißt du überhaupt?“, fragte sie spöttisch.
„Joe. Und du?“
„Carol.“
„Sei nicht sauer auf mich, Carol. Ich finde es okay, wenn Leute vom Dorf fortwollen. Das ist verständlich. Es kann ja nicht jeder ein echter Londoner sein, so wie ich.“
Carol ließ sich nicht für dumm verkaufen. „Wenn du also in London lebst, wieso bist du dann in Milton Keynes eingestiegen? Das ist doch auch ein Provinzkaff, oder nicht?“
„Stimmt genau. Ich lebe nicht in London, ich habe dort nur meinen Job. London ist dreckig, teuer, kriminell – das ist nicht mehr meine Stadt. Da wohne ich lieber in Milton Keynes.“
„Und lachst über Leute, die nach London wollen? Wie albern ist das denn?“
„Du wirst schon erleben, wie gefährlich diese Stadt sein kann.“
Carol hatte überhaupt keine Lust, sich von diesem blöden Joe runterziehen zu lassen. Trotzdem verschlechterte sich ihre Laune. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sich vor diesem Fremden rechtfertigen zu müssen. „Es geht dich zwar nichts an, aber London ist die große Chance meines Lebens! Ich habe nämlich einen Studienplatz an der Westminster School bekommen. Das
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