Blutspur in East End
Carol.
Der Polizist hatte die beiden Reisetaschen auf dem Gang stehen gelassen. Carol und Eve nahmen das Gepäck und gingen die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Carol lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie an einer Zimmertür Polizeisiegel erblickte.
„Das war Tricias Zimmer. Wir dürfen es nicht betreten. Die Inspektorin sagte, dass der Raum kriminaltechnisch untersucht werden muss“, erklärte Eve.
„Hauptsache, der Mörder wird gefasst“, antwortete Carol.
„Die Polizei wird ihn schon erwischen. Ich habe mal gehört, dass die meisten Morde aufgeklärt werden. Und diese Inspektorin Shepley scheint wirklich Ahnung von ihrem Job zu haben“, entgegnete Eve.
Carol nickte mechanisch. Im Moment konnte sie keinen klaren Gedanken fassen Tricias völlig unerwarteter und gewaltsamer Tod hatte sie aus der Bahn geworfen. Bisher hatte Carol nur einmal in ihrem Leben so etwas erlebt, als nämlich ihr Großvater gestorben war. Aber der Vater ihrer Mutter war sehr alt und auch lange krank gewesen, daher konnte sich die Familie innerlich auf sein Ende vorbereiten. Aber Tricia? Das war für Carol immer noch unbegreiflich.
Gewiss, London war eine Metropole. Dort gab es viel mehr Kriminalität als im beschaulichen Shrewsbury. Aber das musste doch nicht bedeuten, dass jeder, der in die britische Hauptstadt zog, sein Leben riskierte!
Carol wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als Eve sie in das Zimmer unmittelbar neben dem Raum führte, den Tricia bewohnt hatte. Bis auf wenige Einrichtungsgegenstände war das Zimmer kahl, aber es wirkte sauber und aufgeräumt. Durch das Fenster fiel genügend Licht hinein. Wenn die Sonne schien, war es hier gewiss schön. In diesem Moment konnte Carol sich jedoch nicht vorstellen, sich jemals wieder in ihrem Leben über so etwas Einfaches wie Sonnenstrahlen freuen zu können.
„Das Bett, der Schrank und die Kommode waren schon hier, als wir eingezogen sind“, erklärte Eve. „Bella hat die Sachen nicht mitgenommen. Du könntest sie also übernehmen.“
Carol erwiderte nichts. Es war ein unheimliches Gefühl, direkt neben dem Zimmer ihrer ermordeten Freundin zu wohnen. Aber was sollte sie tun? Nach Shrewsbury zurückkehren? Tatsächlich hatte sie schon daran gedacht. Aber was würde dann aus ihrem Studium werden? Mit dem Umzug nach London hatte Carol sich einen Traum erfüllt. Wenn sie jetzt aufgab, dann war nicht nur Tricia tot, sondern ihre eigene Zukunft begraben, die sie sich in den schönsten Farben ausgemalt hatte.
„Du willst jetzt bestimmt lieber allein sein. Ich lasse dich einfach in Ruhe, okay? Aber du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du etwas brauchst. Und in der Küche bedienst du dich einfach selbst“, sagte Eve.
Sie umarmte Carol, bevor sie das Zimmer verließ und die Tür leise hinter sich schloss. Carol ging zum einzigen Fenster des Raums und schaute hinaus. Die schmalen Reihenhäuser links und rechts sahen alle gleich aus. Die Straße war ruhig, obwohl sie nur eine halbe Meile von der quirligen Camden High Street entfernt lag. Es begann zu regnen.
Und dann entdeckte Carol noch etwas. Auf dem Weg hierher war es ihr gar nicht aufgefallen. Aber nun erkannte sie deutlich die mit Kreide gezeichneten Umrisse eines menschlichen Körpers auf dem Gehweg.
Carols Magen krampfte sich zusammen. Dort musste Tricia hilflos in einer Blutlache gelegen haben. Sie war bereits in Sichtweite des Hauses gewesen, als der Killer zugeschlagen hatte. Dort auf diesen grauen Betonplatten war ihre beste Freundin gestorben.
Carol presste ihre Stirn gegen das kalte Fenster. Von außen liefen Regentropfen am Glas herunter, während Tränen über ihre Wangen strömten.
2. KAPITEL
Die Prärie war eine Wiese am Stadtrand von Shrewsbury.
Tricia und Carol hockten im Schatten einer uralten Eiche, die an diesem heißen Augusttag Schatten spendete. Die Hitze flirrte über den Dächern und Kirchtürmen des Städtchens, das von hier aus so weit entfernt schien wie der Mond. Am Ufer des Bachs schwirrten schillernde Libellen durch die Luft.
Die beiden vierzehnjährigen Mädchen waren in ihre Fantasiewelt abgetaucht. Ihre Fahrräder, die an dem dicken Baumstamm lehnten, hatten sich in feurige Mustangs verwandelt. Tricia und Carol waren nun keine Schülerinnen mehr, die sich in den Sommerferien daheim langweilten. Stattdessen hatten sie sich selbst zu Häuptlingstöchtern ernannt, die von gutaussehenden und tapferen Kriegern umschwärmt wurden.
Sie saßen einander gegenüber. Tricia
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