Blutspur in East End
mysteriöse Killer noch weitaus mehr Frauen auf dem Gewissen hat.“
„Und man weiß wirklich nicht, wer Jack the Ripper war?“, wollte Tricia wissen. Feathers lächelte ihr zu, was allerdings eher wie ein Zähnefletschen aussah. Er warf einen Blick auf ihr Namensschild, bevor er antwortete.
„Nein, Tricia. Es gibt abenteuerliche Theorien über Jack the Ripper. Manche Leute haben den damaligen Thronfolger Prinz Albert verdächtigt – sogar der Schriftsteller Lewis Carroll wurde zeitweise als Täter in Betracht gezogen. Er hat übrigens Alice im Wunderland geschrieben. Tatsache ist: Jack the Ripper konnte nie gefunden werden. Vielleicht irrt er ja immer noch durch Whitechapel, wer weiß? Viel verändert hat sich hier seit dem Jahre 1888 jedenfalls nicht.“
Die letzten Sätze sagte Feathers mit einem Augenzwinkern, aber Tricia fand seinen Spruch nicht witzig. Jack the Ripper konnte unmöglich noch leben. Er hätte mehr als 150 Jahre alt sein müssen, um im 21. Jahrhundert Angst und Schrecken zu verbreiten. Mit einer Sache hatte der Fremdenführer allerdings recht. Whitechapel war nach wie vor ein ärmliches und heruntergekommenes Viertel. Daran hatte sich seit den Ripper-Morden nichts geändert.
Die Straßen waren schmal und mit Mülltonen übersät. Es gab verwahrloste Hinterhöfe und verschachtelt gebaute Schuppen. Ohne Feathers hätte sich wahrscheinlich jeder Teilnehmer der Führung in diesem Gassenlabyrinth hoffnungslos verirrt. Tricia achtete deshalb darauf, nicht den Anschluss an die Gruppe zu verlieren.
Feathers setzte den Rundgang fort. „Ladies und Gentlemen, wir begeben uns jetzt zum Fundort der Leiche von Elizabeth Stride, die von ihren Freunden Long Liz genannt wurde. Sie war eine Prostituierte, genau wie alle anderen Opfer von Jack the Ripper. Und auch der Körper von Long Liz wurde durch den Serienmörder grausam verstümmelt.“
Obwohl Whitechapel immer noch ein dicht bevölkerter Stadtteil war, herrschte nach Einbruch der Dunkelheit Totenstille. Oder kam Tricia das nur so vor? Es konnte hier gar nicht so ruhig sein wie in der Kleinstadt Shrewsbury, aus der sie stammte. London war schließlich die Party-Hochburg Großbritanniens, eine internationale Mode- und Medien-Metropole. Doch davon spürte man in den schmutzigen Gassen von Whitechapel nichts. Hier war wirklich die Zeit stehen geblieben, seit Jack the Ripper mit dem Messer in der Tasche durch den Nebel geschlichen war.
London hatte eine schaurige Vergangenheit, und es gab sogar ein Museum, das sich ausschließlich mit den spektakulären Kriminalfällen der britischen Hauptstadt beschäftigte. Auch dem berühmten Detektiv Sherlock Holmes wurde in London gehuldigt. Doch Holmes und sein Assistent Dr. Watson waren nur erdachte Romanfiguren, während Jack the Ripper wirklich hier sein Unwesen getrieben hatte.
Tricia war angespannt. Sie konnte sich der unheimlichen Ausstrahlung dieses Ortes nicht entziehen. Eigentlich war sie von gruseligen Begebenheiten und Geheimnissen fasziniert, sonst hätte sie sich wohl kaum freiwillig für diese Tour angemeldet. Abends im Bett verschlang sie blutrünstige Thriller geradezu, und auch im Kino versäumte sie selten einen Mystery- oder Fantasy-Film, der ihr eine Gänsehaut bescherte.
Doch in Whitechapel war sie an einem wahren Schauplatz des Grauens gelandet.
Auf dieses Kopfsteinpflaster unter ihren Schuhsohlen war das Blut der Frauen gespritzt, von diesen schäbigen Häuserwänden hatten ihre Schreie widergehallt. Hier hatte Jack the Ripper seine wehrlosen Opfer gnadenlos niedergemetzelt.
Tricia musste zugeben, dass Feathers seine Sache ausgezeichnet machte. Er konnte packend erzählen. Mit wenigen Sätzen verstand er es, die Atmosphäre des Jahres 1888 lebendig werden zu lassen. Das Rattern der Fuhrwerke, die Gesänge der Trinker in den sogenannten Ginpalästen, der schwarze Rauch aus unzähligen Öfen und Schiffsschornsteinen – Tricia fühlte sich in die Vergangenheit versetzt. Der Rundgang war nicht einen Moment langweilig. Trotzdem war sie erleichtert, als die Führung an der U-Bahn-Station Aldgate East endete. Dort hatte sie auch zwei Stunden zuvor begonnen.
„Ladies und Gentlemen, ich wünsche Ihnen eine gute Nachtruhe in der Stadt Jack the Rippers.“ Mit diesen makabren Worten verabschiedete Feathers seine Gruppe.
Tricia wollte nur noch nach Hause. Sie bezweifelte, dass sie an diesem Abend ein Auge zubekommen würde. Sie nahm sich vor, von ihrem Festnetzanschluss aus Carol anzurufen. Mit
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