Blutstein
Frühlingssonne nach Kräften
schien. Nummer 10 war ein heruntergekommenes fünfstöckiges Haus, das so kaputt und grau war wie
die Straße, an der es lag. Am Bürgersteig parkte ein alter Lieferwagen mit
Anhänger, der zur Hälfte mit Umzugskartons gefüllt war.
Der Name BREMER stand noch am Klingelschild des Eingangs 10 B , und zum Glück stand die Eingangstür
offen. Das Schloss schien kaputt zu sein.
In dem hallenden Treppenhaus stank es fürchterlich, als hätte jemand
saure Milch auf dem Boden vergossen. Per nahm die Treppe in den zweiten Stock.
Die Wohnungstür stand einen Spalt offen, und aus dem Inneren drangen hämmernde
Laute.
Er schob die Tür auf, und es schlug ihm ein noch säuerlicherer
Geruch entgegen.
»Hallo?«, rief er.
»Was ist denn?«, antwortete eine müde Stimme.
Eine Frau mittleren Alters, früh ergraut, stand in der Tür zur Küche
und musterte ihn mit verschränkten Armen. Hinter ihr sah Per einen Jungen, die
Baseballkappe verkehrt herum auf dem Kopf. Er war gerade damit beschäftigt,
einen alten Fernseher von der Wand abzumontieren und die Kabel zusammenzulegen.
Auf einmal fühlte sich Pers Kopf ganz leer an. Was wollte er hier
eigentlich?
»Hallo, ich wollte mal vorbeischauen«, begann er. »Ich bin ... ein
alter Kumpel von Hans.«
Der Blick der Frau wirkte jetzt noch resignierter.
»Ach ja? Ein Superkumpel, ja?«
»Nein«, gestand Per, der keine Lust hatte, weiter Lügen zu erzählen.
»Wir waren keine Kumpels im eigentlichen Sinne – aber mein Vater und er haben
zusammengearbeitet. Und ich war gerade in der Nähe und wollte mal sehen, wo er
gewohnt hat.«
Die Frau schien an seinen Erklärungen kein Interesse zu haben. Sie
bat Per auch nicht herein, sondern drehte sich wortlos um und verschwand in der
Wohnung.
Deshalb folgte er ihr und fragte:
»Waren Sie seine Frau? In diesem Fall würde ich Ihnen gerne mein
herzliches ...«
»Hasse war nicht verheiratet«, unterbrach ihn die Frau. »Ich bin
seine jüngere Schwester, Ingrid. An Walpurgis sollen hier neue Leute einziehen,
deswegen müssen wir die Bude ausräumen.«
Viel leer zu räumen gab es nicht, stellte Per fest, als er durch die
Wohnung ging. Im Schlafzimmer stand nicht einmal ein Bett, die Matratze lag auf
dem Boden, und die gelb gestrichenen Wände waren kahl. Bremer schien seine
gesamte Zeit und Energie darauf verwendet zu haben, zusammen mit Jerry Filme und
Zeitschriften zu produzieren. Einrichtungsfragen waren wohl kein Thema.
Seine Schwester war in die Küche gegangen und hatte begonnen,
Besteck und Töpfe in einen Umzugskarton zu legen. Hier war die Einrichtung
genauso karg wie im Schlafzimmer. Ein wackeliger Küchentisch und zwei Stühle
standen vor dem Fenster, und am Kühlschrank hingen ein paar vergilbte Postkarten.
Es lagen weder VHS -Kassetten
noch Zeitschriften herum – kein Gegenstand, der einen Rückschluss auf seine
Tätigkeit zugelassen hätte.
»Sie da!«
Er sah auf. Ingrid stand vor ihm und zeigte mit dem Finger auf ihn.
»Sie könnten mir helfen, diesen Schrank auszuräumen«, sagte sie.
»Tun Sie das?«
»Nein, ich habe keine Zeit, ich muss ...«
»Dauert doch nicht lang. Danach könnten Sie noch Simon mit den Kartons
helfen.«
Per stellte sich auf einen Stuhl und begann, die Teller aus dem
Schrank zu nehmen und in einen Umzugskarton zu stapeln. Als er einen Stapel
tiefer Teller von einem der unteren Regalfächer anhob, entdeckte er einen
gelben Zettel, der dahinter gelegen hatte. Per nahm ihn an sich. Es war ein
alter selbstklebender Notizzettel, der offenbar von der Innenwand des Schrankes
abgefallen war. Darauf standen in krakeliger Schrift vier Telefonnummern, davor
vier Namen.
Ingrid
Cash
Fontene
Daniele
Die erste Nummer gehörte aller Wahrscheinlichkeit nach Hans’
Schwester. Eine der anderen hätte eigentlich Jerrys sein müssen, aber Per
erkannte keine wieder.
»Sind Sie hier fertig?«, fragte Ingrid hinter ihm.
»Fast.«
Er steckte den Zettel in die Tasche und fuhr fort, die Teller
einzuräumen. Als er damit fertig war, trug er die Umzugskartons nach unten. Er
war überrascht, dass sich doch einiges an Gegenständen in dieser scheinbar
leeren Wohnung befunden hatte. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie alles
herausgetragen hatten.
Bremers Schwester sprach die ganze Zeit über kein Wort, und auch Per
schwieg.
»Wissen Sie denn, wie Ihr Bruder ums Leben kam?«, fragte er nur, als
sie fertig waren und auf der Straße in der Sonne standen.
Die Schwester wischte sich
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