Blutstein
hielt inne. Sie hatte ein dumpfes Brummen gehört und sah
hinaus. Ein Auto fuhr langsam den Kiesweg entlang, Vendela erkannte es wieder.
Es war der Saab vom Parkplatz.
Das Auto rollte vorbei und hielt an dem alten Häuschen am
nordöstlichen Teil des Steinbruchs. Hinter dem Steuer saß der blonde Mann, der
Max niedergeschlagen hatte. Sein Sohn saß auf dem Beifahrersitz.
Als Vendela den Mann von der Seite sah, fiel ihr ein, an wen er sie
im Profil erinnerte: an Martin, er sah tatsächlich ein bisschen aus wie ihr
erster Mann.
Vielleicht war Max deshalb so wütend auf ihn geworden? Vendela hatte
Martin vor fünf Jahren zufällig wiedergetroffen und war mit ihm mittagessen
gegangen. Leider war sie dumm genug gewesen, Max davon zu erzählen. Noch heute
ritt er auf diesem Ausrutscher herum.
Das hieß also, dass sie die neuen Nachbarn bereits kennengelernt
hatte. Aber hatte sie wirklich Lust, diese Familie einzuladen? Sie würde mit
Max darüber reden müssen.
Sie beugte sich über das Heft und fügte einen letzten Absatz hinzu,
das Ende der Geschichte:
Der Jäger lebte
noch viele Jahre in seinem Häuschen am Rande der Alvar, aber er verliebte sich
nie wieder und fand auch keine Frau, die er heiraten wollte. Denn niemand
konnte sich mit der Königin der Elfen messen. Er konnte sie nicht vergessen.
»Das war eine Sage über die Elfen«, hatte ihr Vater gesagt und sich
dabei von der Bettkante erhoben. »Und jetzt schlaf schön, Vendela!«
Henry hatte ihr noch viele Geschichten über die Elfen erzählt. Seine
verstorbene Frau erwähnte er nie, aber die Königin der Elfen schien es ihm sehr
angetan zu haben. Und diese Sagen über die Elfen hatten sich in Vendelas
Erinnerung eingebrannt. In ihr entstand der Wunsch, es dem Jäger gleichzutun
und den Ort zu suchen, an dem sie ihnen begegnen könnte.
VENDELA UND DIE ELFEN
E s
ist Frühling, als Henry Fors seiner Tochter Vendela kurz vor ihrer Einschulung
die Spuren der Elfen und Trolle zeigt.
Zuerst gehen sie zu den Elfen. Henry nimmt Vendela mit auf die Wiese
hinter ihrem kleinen Bauernhof, um die Kühe zum Melken zu holen.
Sie besitzen drei Kühe, aber Vendela spürt sehr genau, dass ihr
Vater kein Bauer sein will. Nicht im Geringsten. Er bewirtschaftet den Hof nur,
um zu überleben.
»Hier tanzen sie«, erzählt er, während sie auf der Wiese stehen und
die Kühe mit ihren prall gefüllten Eutern schwankend auf sie zukommen.
Vendelas Blick wandert über die Wiese, die von einer hohen
Steinmauer umgeben ist. Dahinter beginnt die Welt der Alvar aus Gras und
Wacholdersträuchern. Nichts bewegt sich dort draußen.
»Wer tanzt?«, fragte sie.
»Die Elfen und ihre Königin. Erinnerst du dich?«
Vendela nickt eifrig, natürlich erinnert sie sich an die Geschichte.
»Sie hinterlassen Spuren, die kann man entdecken«, sagt Henry und
zeigt mit seiner rechten Hand, die trocken und rissig ist von der vielen Arbeit
im Steinbruch, auf den Boden. »Siehst du hier den Elfenreigen?«
Vendela sieht konzentriert über die Wiese und entdeckt einen Ring
aus hellerem Gras. Es sieht aus, als hätte jemand das Gras heruntergetreten.
Nur der innere Kreis ist frisch und grün.
Henry macht einen weiten Bogen um diesen Kreis, während er die Kühe
zusammentreibt.
»Man darf den Tanzplatz der Elfen niemals betreten, das bringt Unglück«,
sagt er.
Dann gibt er den Kühen mit der Hand einen Klaps auf die Flanken,
damit sie schneller gehen.
Einige Tage später nimmt Henry seine Tochter mit hinunter an die
Küste, um sich den Steinbruch anzusehen. Dort ist er am liebsten.
Eigentlich soll Vendela an diesem Tag die Kühe eintreiben, aber
Henry meint, sie können ruhig eine Stunde länger draußen bleiben.
Auf dem Weg zum Meer singt er unablässig mit seinem tiefen Bariton.
Er liebt die einheimischen Volkslieder von Öland:
Ich hole meine Kühe von den Rosen am Strand.
Ich bin ein Leichtmatrose aus Öland, und das Meer ist mein Land.
In seiner Stimme schwingen Trauer und Sehnsucht mit, und Vendela
vermutet, dass ihm ihre Mutter Kristin fehlt.
Kristin war gestorben, sie war seit vielen Jahren tot. Als sie krank
wurde, wurden die leisen Geräusche im Haus lauter, die Wände knackten, es
raschelte und knisterte. Dann starb sie, und alle Laute verstummten.
»Die Schwindsucht hat sie mitgenommen«, hatte Henry seiner Tochter
gesagt, als er das letzte Mal aus dem Krankenhaus nach Hause kam.
Das war ein alter, öländischer Ausdruck für eine Krankheit, bei der
man immer weniger wurde
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