Blutstein
Kopf und sieht hoch zur Felskante. Dort müsste man
ein Märchenschloss bauen, mit hohen Fenstern und Wänden aus Stein. Da würde sie
dann gerne wohnen, zwischen dem Reich der Trolle und dem der Elfen.
»Warum sind sie überhaupt Feinde geworden, die Trolle und die
Elfen?«, fragt sie ihren Vater. »Warum haben sie sich bekämpft?«
Henry schüttelt nur den Kopf.
»Tja, woher soll ich das wissen? ... Sie waren sich vielleicht einfach
zu fremd.«
8
P er
und Jesper mussten mehrere Kilometer fahren, bis sie ein Geschäft fanden, das
an diesem Freitagabend geöffnet hatte. Und als sie schließlich in Stenvik
ankamen, durchquerten sie einen Ort voller dunkler, verlassener Sommerhäuser.
Per bog in Ernsts Väg am Steinbruch ein. Wenigstens in den Fenstern
der beiden neuen Luxusvillen brannte Licht, und vor den Häusern standen große,
glänzende Autos. Da erkannte er den Audi wieder, der seinen Sohn um ein Haar
überfahren hatte. Die Schäden vom Aufprall waren noch zu sehen, aber die
Karosserie blitzte, keine Spur mehr von Blut.
Das Paar vom Parkplatz hatte also hier sein neues Haus gebaut, sie
waren die neuen Nachbarn.
»Ein neues Auto«, sagte er schwärmerisch. »Das wäre gut, für uns und
die Umwelt.«
Jesper drehte sich zu ihm um.
»Willst du ein neues kaufen, Papa?«
»Jetzt noch nicht, später.«
Sein Saab hatte abgenutzte Stoßdämpfer, die bei jeder Bodenwelle und
jedem Schlagloch quietschten und knackten. Aber der Motor war intakt, und Per
sah keinen Grund, sich für seinen Wagen zu schämen.
Und auch nicht für Ernsts Häuschen – obwohl es jetzt gegen Abend mit
dem niedrigen Dach und den kleinen, dunklen Fenstern eher aussah wie eine
verlassene Baubaracke.
Das Haus hatte beinahe fünfzig Jahre lang der Sonne und dem Wind am
Steinbruch getrotzt, und ihm würden einige Reparaturen und ein bisschen Farbe
guttun. Aber das musste bis zum nächsten Sommer warten.
Per war Anfang März das letzte Mal auf der Insel gewesen, um nach dem
Rechten zu sehen. Da war die Große Alvar noch vom Schnee bedeckt gewesen.
Mittlerweile war er fast komplett geschmolzen, trotzdem war es noch nicht viel
wärmer geworden – zumindest nicht nach Sonnenuntergang.
»Kannst du dich noch an unseren Verwandten Ernst erinnern?«, fragte
er Jesper, als er vor dem Häuschen anhielt. »Weißt du noch, wie wir ihn hier
mal besucht haben?«
»’n bisschen«, antwortete Jesper zögernd.
»Woran erinnerst du dich denn?«
»Er hat Steine gehauen ... und Skulpturen daraus gemacht.«
Per nickte und zeigte in die Dunkelheit, wo man die Umrisse eines
kleinen Schuppens neben dem Haus erkennen konnte.
»Die stehen noch in seiner Werkstatt ... na ja, ein Teil davon. Wir
können sie ja mal ansehen.«
Er vermisste Ernst, vielleicht weil er das genaue Gegenteil von
Jerry gewesen war. Ernst war jeden Morgen früh aufgestanden, um, bestückt mit
Vorschlaghammer und Stemmeisen, im Steinbruch zu arbeiten. Er hatte sein Leben
lang hart geschuftet – das hallende, klirrende Geräusch, wenn Stahl auf Stein
schlägt, war eine von Pers lebendigsten Kindheitserinnerungen. Wenn er mit
seiner Mutter zu Besuch kam, hatte Ernst immer Zeit für ihn gehabt.
WILLKOMMEN stand auf seiner Fußmatte.
Als sie die Tür öffneten, schlug ihnen ein schwacher Duft von
Schmierseife und Teer entgegen. Es waren die Gerüche aus der Zeit des ersten
Besitzers, die sich noch nicht verflüchtigt hatten. Sie schalteten das Licht
an, und alles sah genauso aus, wie Per es im Winter zurückgelassen hatte:
Blumentapeten, alte Teppiche mit Kaffeeflecken und ein abgewetzter Holzfußboden.
Im Wohnzimmer stand eine alte Seemannskiste, die Ernst selbst
gezimmert und mit Schnitzereien verziert hatte: Ein Ritter auf einem Pferd
jagte einem höhnisch grinsenden Troll hinterher. Auf einem Felsen hinter dem
Ritter saß eine Prinzessin und weinte.
Die Kiste würde er vorerst behalten, aber sollte er eines Tages zu
Geld kommen, wollte Per sich neue Möbel kaufen.
»Lass uns mal ein bisschen lüften«, schlug er Jesper vor, »holen wir
uns den Frühling ins Haus.«
Sie kippten die Fenster, und das Sausen des Winds zog durch die
Räume.
Wunderbar. Per versuchte die Freude über dieses geerbte Häuschen
bewusst zu empfinden. Darüber, wie es war, und darüber, wie es eines Tages
werden könnte.
»Von hier sind es nur ein paar Hundert Meter an den Strand auf der
anderen Seite des Steinbruchs«, erklärte er Jesper, während sie die
Reisetaschen in den kleinen Flur trugen. »Im
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