Blutstein
alt gewesen. Zumindest konnte sich Henry damals noch ein Auto leisten. Er
war den ganzen Nachmittag unruhig in der Küche auf und ab gegangen, dann hatte
er plötzlich das Haus verlassen und war mit dem Wagen weggefahren. Vendela war
zu Bett gegangen, in ihrem kleinen Zimmer hinter der Küche.
Viele Stunden später hörte sie das Auto zurückkommen. Es fuhr bis an
die Eingangstreppe, die Fahrertür öffnete sich, dann die Beifahrertür. Vendela
lag reglos im Bett und hörte, wie ihr Vater jemandem aus dem Wagen half,
jemanden aus dem Wagen hob und mit lauten Schritten und schwer beladen die Treppe in den ersten Stock
hochstampfte.
Er hielt sich eine ganze Weile dort oben auf, Vendela hörte ihn
leise sprechen – und noch eine andere Stimme, die kicherte.
Dann kam Henry wieder herunter und ging zum Kofferraum. Dort kämpfte
er mit einem großen Gegenstand, schließlich gelang es ihm, ihn hochzuwuchten
und in die Küche zu tragen. Es gab ein quietschendes Geräusch von sich, wie
eine schwere Maschine.
Vendela kletterte aus dem Bett, öffnete ihre Tür und spähte hinaus.
Sie sah, wie ihr Vater einen Rollstuhl über den Küchenfußboden
schob. Über seinem rechten Arm hing eine Decke und auf dem Sitz des Rollstuhls
stand ein Radio.
Henry ging rückwärts die Treppe hoch und zog den Stuhl mit dem Radio
die Stufen hoch. Nach ein paar Schritten hielt er inne, um zu verschnaufen, und
bemerkte Vendela.
Er sah aus, als hätte sie ihn bei etwas ertappt, oder vielleicht war
er verlegen? Und er murmelte Unverständliches. Vendela kam näher.
»Was hast du gesagt, Papa?«
Ihr Vater sah sie an und seufzte.
»Das war nicht mehr auszuhalten in der Anstalt«, sagte er. »Sie
haben ihn da mit Ledergurten festgebunden.«
Und das war die einzige Erklärung, die sie je bekommen hat. Wer der
Verwandte ist, der jetzt bei ihnen auf dem Hof wohnt, erfährt sie nicht.
Aber Vendela wagt auch nicht zu fragen. Es spielt ohnehin keine
Rolle, denn Henry nennt ihn nur den Invaliden. Oft sagt er noch nicht einmal
das, sondern nickt nur hoch zur Decke oder verdreht die Augen. Als Vendela am
ersten Abend ein dumpfes Lachen aus dem ersten Stock hört und ängstlich nach
oben sieht, fragt ihr Vater sie:
»Wollen wir hochgehen und ihm Hallo sagen?«
Aber Vendela schüttelt nur stumm den Kopf.
Die neuen Aufgaben werden schnell zur Routine, die nicht mehr extra
benannt werden muss. Vendela ist für den Invaliden zuständig, so wie sie auch
für die Kühe verantwortlich ist. Der Unterschied ist nur, dass sie den
Invaliden nie zu Gesicht bekommt. Die Tür zu seinem Zimmer ist immer
geschlossen, aber die Musik und die Radionachrichten sind von morgens bis
abends zu hören. Manchmal fragt sie sich, ob der Invalide seine Tür auch
abgeschlossen hat, aber sie wagt es nie, die Hand auszustrecken und die Klinke
herunterzudrücken.
Ihre Aufgabe besteht darin, morgens vor der Schule die dunkle Treppe
mit dem Tablett hochzugehen und es auf den kleinen Beistelltisch neben seiner
Tür zu platzieren.
Klopf immer an,
wenn du das Essen hingestellt hast , hatte ihr Henry gesagt.
Vendela klopft an, wartet aber nie auf eine Antwort. Sie läuft, so
schnell sie kann, die Treppe hinunter.
Es dauert lange, bis die Tür oben geöffnet wird. Meistens hat
Vendela es geschafft, sich bereits ihre Schuhe anzuziehen, wenn oben die
Türangel anfängt zu quietschen. Dann bleibt sie manchmal wie versteinert stehen
und hält den Atem an; sie hört, wie die Tür aufgeht, und dann vernimmt sie den
schweren Atem des Invaliden, der sein Zimmer verlässt. Das Geschirr klirrt ein
bisschen, wenn er das Tablett hochhebt.
In diesen Augenblicken hat Vendela die größte Angst davor, dass oben
etwas schiefgehen könnte, dass sie das Scheppern des Geschirrs hört, weil das
Tablett zu Boden gefallen ist. Dann wäre sie nämlich gezwungen, hinaufzugehen
und ihm zu helfen.
Zum Glück geht nie auch nur ein einziges Stück Geschirr zu Bruch.
Allerdings wächst mit jedem Tag, der vergeht, Vendelas Angst, dass die Tür oben
offen stehen könnte, wenn sie von der Weide nach Hause kommt. Sperrangelweit
offen.
Aber auch das geschieht nicht. Jeden Nachmittag, wenn die Kühe
wieder im Stall stehen, geht sie hoch und findet lediglich das leere Geschirr
vor. Ab und zu steht ein Nachttopf daneben, den sie dann leeren muss.
Aus dem Raum hinter der verschlossenen Tür ist ein leises Lachen zu
hören.
Henry hat wenig Freunde, und nur einmal im Jahr kommt Besuch: Zwei
Tage vor Weihnachten reisen
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