Blutstein
Tante Margit und Onkel Sven aus Kalmar an. Sie
fahren mit ihrem großen Auto vor, dessen Kofferraum bis obenhin voller
Lebensmittel und Geschenke ist. Vendela und Henry haben für diesen Anlass die
Küche gescheuert und eine neue Decke auf den Esstisch gelegt.
Henry macht Kaffee und gibt sich große Mühe, locker zu plaudern.
Danach gehen seine Schwester und er hoch zum Invaliden, um ihm fröhliche
Weihnachten zu wünschen. Tante Margit hat ein paar Geschenke in den Händen.
Vendela bleibt am Esstisch sitzen und hört, wie sie die Tür öffnen
und wieder hinter sich schließen. Tante Margits Stimme klingt viel schriller
und fröhlicher als sonst.
Aber man hört niemanden antworten.
Nur ein einziges Mal ist die Tür geöffnet, als Vendela vorbeigehen
will, ein paar Monate nach dem Einzug des Invaliden auf den Hof. Sie steht
einen Spaltbreit offen. Vendela geht langsam hin, bleibt stehen und streckt den
Hals, um in das Zimmer hineinsehen zu können. Dunkel ist es, und ein
säuerlicher Geruch schlägt ihr entgegen. Der Raum ist karg eingerichtet, ein
Bett und ein kleiner Tisch stehen darin. Auf dem Boden liegt eine alte Decke.
Auf dieser Decke sitzt eine Gestalt. Es ist ein kleiner, zusammengekauerter
Mensch mit ungekämmtem, grauweißem Haar, das in alle Richtungen absteht.
Reglos hockt er auf der Decke.
Vendela nimmt an, dass der Invalide schläft, aber plötzlich richtet
er sich auf, dreht Vendela den Kopf zu und öffnet den Mund. Dann fängt er an zu
kichern.
Schnell geht sie weiter, tut so, als gäbe es ihn gar nicht. Eilig
läuft sie die Treppe hinunter und hinaus in den Hof.
Jetzt versteht sie, warum der Invalide immer die Tür hinter sich
zumacht – man kann nicht unter die Leute, wenn man so alt und krank ist.
Aber trotzdem: Das ganze Jahr lang in einem einzigen Zimmer im
ersten Stock zu sitzen und nie nach draußen in die Sonne zu gehen? Das konnte
sie sich nicht vorstellen, das musste furchtbar sein.
Der Winter kommt und geht, und dann wird es März, und der Schnee in
der Alvar beginnt zu schmelzen. Einige Wochen lang bilden sich größere und
kleinere Pfützen in dem vergilbten Gras, sogenannte Frühlingsseen. Wenn die
Schule aus ist und die Kühe im Stall sind, begibt sich Vendela auf Entdeckungsreise.
Sie sieht, wie sich die Wolken in den Pfützen spiegeln, und fühlt sich frei, so
weit weg vom Hof.
An einem sonnigen Nachmittag in der Alvar entdeckt sie, etwa zwei
bis drei Kilometer vom Hof entfernt, ein großes und sonderbares Ding, das
zwischen Wacholdersträuchern liegt. Es ist ein Felsblock.
Der Felsblock sieht aus wie ein schiefer Altar. Er ist groß und von
Weitem schon zu sehen. Die Sträucher stehen in einem Kreis um den Block herum,
erscheinen aber wie auf Abstand bedacht.
Aber Vendela wagt sich nicht an ihn heran, so weit war sie noch nie
von zu Hause weg, und sie hat Angst, dass sie sich zwischen den Frühlingsseen
verläuft. Deshalb kehrt sie um und rennt zurück.
Der Frühling verstreicht, und das Schuljahr endet, ohne dass Vendela
noch einmal zu dem sonderbaren Felsen gegangen ist. An einem Sommerabend
erzählt sie ihrem Vater davon und fragt ihn, ob er diesen Block auch schon
einmal gesehen hat.
»Den Elfenstein?«
Henry sitzt am Küchentisch und poliert einen runden Lampensockel. Er
hat ihn aus Kalkstein angefertigt, und unter seinem Schmirgelpapier beginnt er
zu glänzen, wie geschliffener Marmor sieht er aus.
»Meinst du den, der auf dem Weg nach Marnäs liegt?«
Vendela nickt.
Elfenstein .
Jetzt weiß sie endlich, wie er heißt.
»Der stammt noch aus der Eiszeit«, erklärt ihr Henry. »Er liegt dort
schon seit ewigen Zeiten. Die Menschen sind immer wieder zu ihm gegangen und
haben Sachen geopfert.«
»Und wem?«
»Den Elfen«, antwortet Henry. »Man sagt auch Elfenmühle dazu. Früher
glaubten die Leute, dass die kleinen Vertiefungen auf dem Stein daher stammten,
dass die Elfen dort ihr Mehl gemahlen haben. Mittlerweile geht man nur noch
dorthin, um sich Sachen zu wünschen ... man bringt den Elfen eine kleine Gabe und
wünscht sich dafür etwas.«
»Und was wünscht man sich?«
»Was man will. Wenn man etwas verloren hat, kann man die Elfen
bitten, beim Suchen zu helfen ...«, erklärt Henry und sieht gedankenverloren aus
dem Fenster hinüber zum Stall, »... man kann sich aber auch ein bisschen mehr
Glück im Leben wünschen.«
»Hast du das auch schon einmal gemacht, Papa?«
»Was denn?«
»Na, den Elfen ein Geschenk gebracht und dir etwas
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