Blutsvermächtnis (German Edition)
damitzusammenhängenden Erinnerungen Halluzinationen entspringen. Ein eisiger Schreck erfasste sie. Hatte Elia sie etwa unter Drogen gesetzt? War es ihr daraufhin während des Erdbebens irgendwie gelungen, aus seinem Haus zu fliehen?
Mittlerweile erkannte sie im Morgengrauen mehr Details ihrer Umgebung. Grauen, das war der korrekte Ausdruck. Sie konnte nicht fassen, dass sie sich mitten in der Wüste befand. Keine Spur einer Behausung, kein Anzeichen von menschlichen Wesen in der Nähe.
Der Schmerz in ihren Füßen nahm zu, je wärmer es im Fahrzeug wurde. Sie zog den Unterschenkel hoch und betrachtete ihre Fußsohle. Die Wunden sahen furchtbar aus. Nevaeh entfernte die zerrissenen Fetzen der Strümpfe, zupfte Splitter aus den Dreck- und Blutkrusten. Obwohl sie die Zähne zusammenbiss, trug ihr Wimmern den Sieg davon und schoss in einem Stöhnen aus ihr hinaus. Das dank Sitzheizung erwärmte Leder begann, ihre Glieder aufzutauen und ihren Geist in Bewegung zu versetzen. Sie musste hier weg. Und dazu sollte sie zumindest das Gaspedal treten können. Erneut fragte sie sich zweifelnd, ob ihr Erinnerungsvermögen sie so täuschen konnte. Steckten nicht vielleicht doch Dad und Maria hier irgendwo?
Der anbrechende Tag erhellte die zerklüftete Wüstenlandschaft zunehmend. Nevaehs Blick flog in alle Richtungen. Nirgendwo gewannen andere Konturen Gestalt als nackter Fels und Sand. Wie ein fremder Planet lag die zerklüftete Felslandschaft vor ihr, bis sie in der Ferne die vertraute Silhouette des Licancabur ausmachte. Der Vulkanberg erschien ihr wie in Gedanken in Santiago bedrohlich und abstoßend, dennoch war sie froh, eine Orientierungshilfe gefunden zu haben. Sie starrte auf zwei dunkle Flecken in einiger Entfernung. Jaydens und ihr Zelt. Sie befand sich ganz in der Nähe des Camp-Standortes.
Verdammt. Sie musste die Gegend absuchen.
Nevaeh schob das Bein zurück in den Fußraum und trat mit der Sohle auf ein Pedal. Es tat weh. Aber es würde gehen. Es musste gehen. Nur deshalb nahm sie sich Zeit, auch den linken Fuß vorsichtig von den gröbsten Verunreinigungen und Glassplittern zu befreien und unterdrückte währenddessen ihren Gedankentornado. Sie hoffte, auftreten und laufen zu können. Und wenn sie kriechend die Umgebung absuchen müsste – sie würde sich hier nicht fortbewegen, bis sie jeden Stein dreimal umgedreht hatte.
Lieber Gott! Sie konnte einfach nicht zwischen Einbildung und Wahrheit unterscheiden. Außerdem quälte sie brennender Durst. Wenn sie es jetzt zuließe, weiter in den Wirbel ihrer Verwirrung zu geraten und durchzudrehen, würde sie in dieser gottverdammten Wüste sterben.
Noah würde sterben!
Plötzlich entfernten sich ihre Gedanken, als verlören sie sich in der Dunkelheit eines beklemmenden Nichts. Was war mit Noah? Was bedrohte ihn?
Keine Frage, sie war am Durchdrehen. Nein, schrie ihr Herz und ihr Verstand protestierte. Egal, was das Herz sagte, wie sehr es sie beschwor, an das Geschehen zu glauben, es als Realität zu begreifen – ihr Verstand donnerte dagegen an. Es konnte einfach nicht real sein.
Oder doch?
Sie wusste es beim besten Willen nicht. Nevaeh konzentrierte sich ein weiteres Mal auf die verschwommenen Bilder ihrer Erinnerung. Erschöpfung und Verwirrung trachteten danach, sie in einen Strudel zu saugen. Nur zu genau spürte sie seine tödliche Kraft, ließe sie sich hinabziehen. Er würde sie in Bewusstlosigkeit tauchen, sie in der Sonne verglühen und verdursten lassen, um den geschwächten Körper in der folgenden Nacht zu Eis erstarren zu lassen. Es schien so verlockend. Loslassen, vergessen und frei sein. Den Geist nicht weiter verzweifelt und ergebnislos nach logischen Erklärungen suchen lassen. Einfach nur abtauchen. Schlafen.
Vielleicht war es Crichton, der an ihrer Seite aufgetaucht war und sie hatte sich vor lauter Angst und Panik Dad an die Seite gemalt. Das Bild malte sich wie eine Karikatur vor ihre Augen.
Na klasse! Jetzt ging es ihr wie Elwood P. Dowd, dessen nur für ihn sichtbarer Begleiter ein zwei Meter großer weißer Hase namens Harvey war.
Nevaeh schnellte in eine aufrechte Position und hieb mit der Faust auf das Lenkrad. Verdammt! Sie wollte nicht schlafen, nicht aufgeben. Nicht sterben!
Handeln war angesagt. Und zwar schnell. Sie öffnete die Tür, um sich nochmals zu vergewissern, dass sie allein war. Bei dem Versuch, auszusteigen, zerrte etwas an ihren Haaren. Dieses elende Storchennest. Nevaeh tastete nach dem Drahtgestell auf ihrem
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