Blutsvermächtnis (German Edition)
verteilten. Als Catalina nickte, öffnete sie die Fahrertür und zuckte zusammen. Der Schwall Kälte zwang sie im ersten Moment, den Atem anzuhalten. Um nicht festzufrieren, beeilte sie sich umso mehr, ihre Siebensachen auszuladen. Jede mit zwei Koffern an den Händen, Nevaeh darüber hinaus mit einer Reisetasche und einem Rucksack behängt, schlitterten sie die gut fünfzig Yards auf den Eingang zu. An den Seiten des freigeschaufelten Weges türmten sich hüfthohe Schneeberge.
Nevaeh drückte die Türklinke, der Verwalter hatte ihr mitgeteilt, dass das Haus unverschlossen sei. Ein Ding der Unmöglichkeit in L. A.
Sie gab Catalina den Vortritt und schloss hastig die Tür. Fast unmittelbar erwärmte sich ihre Haut, das Häuschen war gut beheizt.
Das Kopfkissen klebte tränendurchweicht an ihrer Wange, als Nevaeh vom Kitzeln eines Sonnenstrahls erwachte. Sie nieste und blinzelte aus dem Fenster in das trübe Weißgrau der Wolkenberge, welche da und dort vereinzelte Lichtblitze hindurchschießen ließen, als feuerten Aliens auf die kugelrunden Schneeflocken, die vor der Scheibe tanzten. Die Eiskristalle am Fensterglas sprühten bunte Farben ins Zimmer, die so gar nicht zu ihrem Gemütszustand passten. Märchenhaft, fast glaubte Nevaeh, in der Vergangenheit versunken zu sein und als kleines Mädchen unter dem Daunenberg zu liegen. Prompt manifestierte sich ein Bild in ihren Gedanken: Jannik.
Oh mein Gott. Seit ihrer Kindheit hatte sie nicht an ihn gedacht. Damals war sie knapp vier und es war die erste der schlimmen Visionen. Nun tauchte sie so unvermittelt auf, als hätte sie das Wissen nicht nahezu ihr Leben lang erfolgreich verdrängt. Vergessen beinahe.
Obwohl sich Nevaeh verzweifelt wehrte, gelang es ihr nicht zu verhindern, dass die düstere Szene hinter geschlossenen Lidern Gestalt annahm. Sie sah jede Einzelheit, hörte das Knacken des Eises, roch das kalte Wasser, in das der Vierjährige einbrach. Der vor Entsetzen verzerrte Mund, die aufgerissenen Augen, die ungläubig durch die dicker werdende Eisschicht starrten. Wie der einsame Mann schweißüberströmt einen Eispickel in den klirrenden Tod hieb, im Wettlauf gegen die Zeit. Sie hatte dieses Szenarium nie erlebt und dennoch sah sie es klar und deutlich, so real, als wäre sie dabei gewesen. Und das gestern.
Vor einem Vierteljahrhundert hingegen hatte man sie eines Abends traurig beiseite genommen und ihr in schonenden Worten beigebracht, dass sie Jannik niemals wiedersehen würde, dass er jetzt ein Engel sei und sie begleite, wann immer sie sich nach ihm sehne. Nevaeh hatte geweint, getobt und geschrien. Sie erinnerte sich plötzlich an die entsetzten Gesichter der Erwachsenen, als sie ihnen entgegenschleuderte, wie der Nachbarsjunge im See ertrunken war. Niemand hatte ihr davon erzählt. Sie versuchte, sich aus der schockierenden Rückblende zu reißen, aber ihr Unterbewusstsein beförderte sie sogleich schonungslos in die nächste Erinnerung, die weit näher lag und den tobenden Schmerz erbarmungslos schürte. Ihr Dad war tot!
Seit etwa einem Jahr hatte das Team die Expedition in die Atacamawüste geplant und sie hatte an sämtlichen Vorbereitungen teilgehabt. Nichts, rein gar nichts, hatte auf merkwürdige Aktivitäten hingedeutet. Illegale Verhandlungen hätten ihr auffallen müssen … und woher könnte Dad auch derartige Kontakte haben? Weder in Chile noch in den Staaten. Nein, das war vollkommen ausgeschlossen.
Ihr dröhnte der Schädel. Was hatte sie sich nur gedacht, kopflos die Flucht anzutreten, nicht nachzudenken, nur zu handeln. Völlig konfus. Sie vermutete, dass man Dads Leichnam in Kürze ausfliegen würde. Es gab so vieles zu regeln. Und irgendjemand musste doch in der Lage sein, Klarheit zu schaffen. Sie grübelte darüber nach, sich an die Regierung zu wenden, fragte sich, ob es einen Ansprechpartner für solche Fälle gab, ob eine staatliche Einrichtung infrage käme. Das LAPD? FBI. CIA. Ein Ministerium. Arnold Schwarzenegger. Eine Privatdetektei vielleicht …
Oh Gott, sie wollte das alles nicht wahrhaben. Die Uhr zurückdrehen. Die unüberlegte Handlungsweise hatte ihr mitnichten das Erhoffte eingebracht. Es war unnütz, dass sie sich in die Einöde zurückgezogen hatte. Sie hatte abschalten, Ruhe und Sicherheit gewinnen wollen. Wozu, zur Hölle? Sie durfte sich nicht länger etwas vormachen.Sie war vor Noah geflohen. Vor einer erneuten Begegnung. Dabei blieb ihr doch keine Wahl. Sie musste sich von ihm fernhalten, um sein Leben
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