Blutsvermächtnis (German Edition)
veränderte. Er vermochte weder Dad ins Dasein zurückzurufen noch Nevaeh herbeizuzwingen.
„Ich weiß es nicht“, presste er endlich hervor und die nervöse Spannung entsprach nicht im Mindesten seinem tatsächlichen Gefühlszustand. Er winkte den Barkeeper des „Come Out“ heran und bestellte sich noch einen Kaffee. Noah hasste es, verunsichert zu sein. Das hatte Nevaeh in ihrer Kindheit bereits dauernd verursacht und ihm Angst eingejagt. Geliebt hatte er sie dennoch und tat es unverändert. Obgleich sie fast seit Beginn des Studiums unerreichbar für ihn war, jetzt war sie verschwunden. Das verstörte ihn deutlich mehr, als sie zwar niemals zu sehen, sie jedoch wenigstens in der Nähe zu wissen und darüber informiert zu sein, dass sie wohlauf war. Sie war fast dreißig und somit fraglos in der Lage, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Zu bestimmen, wann sie sich zurückzog. Noah hatte sich in der Klinik mehrfach versichern und sogar den Arzt herbeirufen lassen, in dessen Gegenwart sie die Unterschrift zur Entlassung geleistet hatte, dass sie aus freien Stücken gegangen war. Die wilde Hypothese einer Entführung konnte er vergessen. Er hatte kein Recht, sich in ihre Belange einzumischen. Zehn Jahre gingen sie sich aus dem Weg, hatten kein einziges Mal miteinander gesprochen. Dad war die Person gewesen, die sie gegenseitig auf dem Laufenden hielt. In beidseitigem Einverständnis. Nur persönlichen Kontakt – den lehnte Nevaeh seit ihrem Streitgespräch strikt ab. Irgendwann gab er auf, sie anzurufen, denn sie nahm nicht ab. Briefe kamen ungeöffnet zurück. Dad zuckte mit den Achseln, sobald er ihn um Vermittlung bat. Er meinte, Nevaeh müsse das selbst entscheiden, und wenngleich es ihm das Herz breche, so wolle er keines seiner Kinder zwingen, etwas zu tun, das es kategorisch ablehne. Er versicherte, dass er alles in seiner Macht stehende probiert habe, um Beweggründe aus ihr herauszubekommen und auch, um sie umzustimmen, aber sie blieb hart.
Noah verstand nicht, warum Nevaeh Jayden so kategorisch ablehnte. Sogar gewarnt hatte sie ihn vor ihm, ihn angefleht, sich von Jayden fernzuhalten. Das Gespräch endete in einer bösen Eskalation und danach herrschte Funkstille.
Seine Gedanken kehrten zu der Expedition zurück. Neben ihrem Vater hatten zwei Expeditionsmitglieder das Leben verloren. Weitere Familien, die brutal und unerwartet in Trauer und möglicherweise Existenznot gestoßen worden waren.
„Was ist mit den Leichnamen? Wird man sie aus Chile ausfliegen?“
Jayden räusperte sich. „Die CIA hat auf meinen Wunsch hin ein Ermittlungsteam gebildet. Ich darf nicht dabei sein. Es laufen Verhandlungen mit dem chilenischen Außenministerium.“
„Und wie siehst du die Lage? Wie stehen die Chancen?“ Jayden antwortete nicht, doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Noah brütete vor sich hin. „Was, wenn wir Dad kein anständiges Begräbnis ausrichten können?“
„Warte erst mal ab.“
„Wirst du von deinen Kollegen unterrichtet, sofern es Neuigkeiten gibt?“
„Über jede Kleinigkeit.“
„Gut.“ Nach Langem war er wieder versucht, Jayden zu fragen, welche Aufgaben er bei der CIA eigentlich zu bewerkstelligen hatte. Aussichtslos – keinen Ton würde sein Freund verraten. Im Grunde hätte Noah nicht einmal wissen dürfen, dass Jayden dort beschäftigt war. Das zumindest war jedoch etwas, worüber so gut wie alle Partner der Teammitglieder aus der CIA-Truppe Bescheid wussten. „Meinst du, ich sollte eine Vermisstenanzeige stellen?“
„Ich denke nicht. Deine Schwester ist erwachsen, kann kommen und gehen, wann und wohin sie will. Gib ihr Zeit. Ich glaube, die Problematik erledigt sich von allein. Sie kommt zurück.“
„Hoffen wir es. Aber falls sie …“ Noah brach ab. Falls sie was, zur Hölle. Sich nicht innerhalb einer Woche meldete? In zwei? Vier? Sie riefe ohnehin nicht bei ihm an und teilte ihm freudestrahlend mit: „Juhu, da bin ich.“
Jayden drückte seine Hand.
Kam Nevaeh zurecht? Sie waren nun Vollwaisen, hatten nur noch sich und auch das ausschließlich auf dem Papier. Verdammt, er machte sich zu viele Gedanken. Wahrscheinlich war er selbst es, der nicht zurechtkam. Er warderjenige, der die letzten Familienbande nicht abreißen lassen wollte. Und verdammt! Er musste herausfinden, was in Chile vorgefallen war. Gott, was hatte er für ein Brett vor dem Kopf. Die beiden anderen Familien. Und die übrigen Expeditionsmitglieder, die laut Jayden bereits zwei Tage vor
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