Blutsvermächtnis (German Edition)
Arme. Mit dem Fuß drückte er die Tür auf. Ein leichter Geruch nach Alter, Moos und ein kalter Luftzug wehten ihnen entgegen. Prompt überlief eine Gänsehaut ihren Nacken. Hatte sie Angst? Nein. Vielleicht hätte sie vorsichtiger sein sollen, doch das Pochen seines Herzschlags an ihrer Brust fühlte sich so vertraut, so nah, so … richtig an.
Sie drückte sich enger an ihn, sog seinen männlichen Duft ein, um ihn sich einzuprägen für die Ewigkeit. Schon bald würde die Realität sie einfangen und dann bliebe nichts der Vertrautheit und Wärme. Das Kribbeln und Prickeln würde verrinnen wie Fußspuren im Sand. Hastig verscheuchte Nevaeh die Gedanken an das Morgen. Sie wollte nur das Jetzt genießen. Hatte sie schon einmal bemerkt, dass er nach Tonca-Bohnen roch? Ein Hauch Vanille gab seiner aufregend maskulinen Ausstrahlung Weichheit, ein wenig Waldmeister ließ ein Zipfelchen Kindhervorblitzen, eine leise Note frischen Heus verhieß Wildheit und Abenteuer. Eine unwiderstehliche, beinahe hypnotisierende Mixtur.
Elia trug sie durch einen Tunnel aus Felsgestein, der sich in unregelmäßiger Form weitete und verengte und Nevaeh verriet, dass er natürlichen Ursprungs war. Versteckt angebrachtes Licht erleuchtete den Gang ebenso, wie die Höhle, in die sie kurze Zeit später gelangten. Viel Zeit blieb ihr nicht, die atemberaubende Pracht der Stalagmiten und Stalaktiten zu bewundern, deren Schönheit gezielt angebrachte Strahler hervorhoben. Sie traten ins Freie und Elia ließ sie auf die Füße kommen. Er wartete, bis sie ihre Röcke gerichtete hatte, und führte sie voran bis fast in die Mitte der runden Fläche, die vielleicht drei Fahrzeuglängen im Durchmesser maß. Die Lichtquellen versteckten sich auch hier, doch sie verbreiteten ein unaufdringliches, romantisches Zwielicht. Nevaeh erkannte meterhohe Felsen, die das kleine Rondell einschlossen. Palmen und Zitrusbäume wuchsen am Rande, teils nahmen Kletterpflanzen von den Steinen Besitz.
Elia trat von hinten an sie heran und legte ihr eine Decke um die Schultern. Kaschmir schmiegte sich an ihren Hals. Er zog sie an seine Brust, sodass sie sich mit den Schultern an ihn schmiegte. Seine Arme lagen um ihre Hüften, er verschränkte die Finger vor dem Bauch. Dann legte er den Kopf an ihre Wange.
Fiebrig widmete Nevaeh ihre Aufmerksamkeit erneut den Pflanzen. Sie brauchte Ablenkung, wollte sie nicht mit weichen Knien zu Boden sinken.
Wohin sie die Augen richtete, stets flüsterte er in ihr Ohr.
Die Kletterranken mit den fliederfarbenen Blättern
. „Soldadito, Pajarito, Relicario – Tropaeolum hookerianum, Unterart austropurpureum.“
Die Sträucher mit den pinkfarbenen Blüten, die wie Fiberglashärchen aussehen
. „Espino rojo – Calliandra chilensis.“
Die riesige Palme in der Mitte des Rondells
. „Palmera de abanico – Washingtonia filifera.“
Nevaeh genoss jedes Wort, das begleitet von Schaudern über die Haut ihres Halses floss. Was immer er erzählte, spanische Pflanzenbezeichnungen, botanische Fachbegriffe – es klang wie Musik, wie ein zärtliches Liebeslied.
„Der Strauch mit den Früchten, die wie eine Mischung aus Äpfeln und Birnen aussehen?“
„Huingán, Borocoi, Boroco – Schinus polygamus“, sagte er leise, während er sie um die Hüften gefasst langsam zu sich umdrehte. Sein Mund streifte ihre Stirn. „Sie schmecken nach …“
„Ich will sie nicht versuchen.“ Nevaeh fasste mit beiden Händen sein Gesicht und zog ihn zu sich herab. „Nur deine Lippen.“
Keine Frucht der Welt konnte süßer schmecken, keine Chilischote schärfer, keine Limette saurer, kein Kraut bitterer und keine Ozeanträne salziger. Die Berührung seines Mundes jagte die Ahnung jeder äquivalenten Empfindung zu diesen Geschmacksnoten durch ihr Gehirn, geprägt mit dem Wissen um die exakte Sekunde im Jetzt und im Morgen, zu der sie das jeweilige Aroma in seiner reinsten Form zu kosten bekommen würde. Doch jetzt zählte nur die Süße. Die unermessliche Verführung, die sie hinaustrug in die Unendlichkeit.
Viel zu schnell erfuhr sie die Würze der Bitternis, als Elia seine Lippen von ihr löste.
„Schaut hinauf“, sagte er und lenkte ihr Gesicht nach oben, bis sie den vollen Mond erfasste. Seine mattgoldene Scheibe hing riesengroß über der Schlucht, als wachte er über den Eingang und behütete sie vor allem Unheil.
„Schaut an ihm vorbei und verliert Euch in den Sternen. Lasst Euren Träumen freien Lauf …“
Elia zuckte zusammen.
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