Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
eine einfache Polizeikontrolle, eine Routineangelegenheit. Doch erst die aufmerksame Lektüre und die richtige Interpretation des vorliegenden Materials führte im Allgemeinen zu der entscheidenden Wende in einem Fall. Sowohl Reynolds als auch Bernardi wussten, wie wichtig es war, sich auf objektive Fakten zu stützen und nicht allein auf die Intuition. Und dieses Laborergebnis war ein Faktum, um das man nicht herumkam, ein erstes Puzzleteil eines zu rekonstruierenden Ganzen.
»Fingerabdrücke?«, brach Reynolds schließlich als Erster das Schweigen.
»Sämtliche am Tatort abgenommenen Fingerabdrücke stammen vom Opfer und seinen Kollegen«, sagte Bernardi.
»Keinerlei Abdrücke von Außenstehenden also?«
»Nein, leider.«
»Und auf den Patronenhülsen?«
»Auch nichts. Keine Fingerabdrücke.«
Was bedeutete, dass der Täter beim Laden der Waffe Handschuhe getragen hatte. Eine Vorsichtsmaßnahme, die normalerweise nur Profikiller trafen.
»Wir haben es also mit einem Profi zu tun. Darauf deuten inzwischen mehrere Indizien hin«, folgerte Reynolds.
Diese Hypothese wurde auch vom Typ der Waffe gestützt: Eine Kaliber .22 ist das bevorzugte Handwerkszeug von Berufsmördern. Sie ist klein, leicht am Körper zu verbergen und kann so gut schallgedämpft werden, dass beim Abfeuern des Schusses fast nur das leise Klicken der Mechanik zu hören ist.
Einige Faktoren jedoch passten nicht ins Bild: Warum sollte ein Profikiller einen Portier an seinem Arbeitsplatz erschießen, wo es doch sicher andere, weniger riskante Möglichkeiten gegeben hätte? Und aus welchem Grund? Nur um sich seiner Geldbörse zu bemächtigen? Warum hatte der Portier sich nicht gewehrt? Kannte er seinen Mörder vielleicht? Führte er etwa ein Doppelleben, von dem seine Kollegen, die Hausbewohner und sein Nachbar nichts wussten?
Mehrere Fragen stellten sich den Detectives, auf die sie keine Antwort wussten.
Bernardi sah in sein Notizbuch und hielt es für das Beste, bei den Fakten zu bleiben. Er informierte den Lieutenant über die Todesursache, den vermutlichen Todeszeitpunkt, die beiden entfernten Projektile und die Geschossbahn.
»Mike, wir müssen die Vergangenheit von Bill Wells genauestens durchleuchten«, ordnete Reynolds abschließend an.
Bernardi nickte, obwohl er da so seine Zweifel hatte. Beim Verlassen der Wohnung des Opfers war ihm durch den Kopf gegangen, dass eine derart unscheinbare Existenz keine gefährlichen Geheimnisse verbergen konnte.
»Ach, noch etwas, Mike …«
»Ja?«
»Das ist dein Fall. Du hast freie Hand, aber ich wäre dir dankbar, wenn du mich über jede Entwicklung auf dem Laufenden halten würdest. Du weißt ja …« Er rieb sich das Kinn.
»Ich weiß, John, Sie kümmern sich gern persönlich um bestimmte Fälle«, sagte Bernardi und wiegte den Kopf.
John Reynolds reagierte darauf mit einem Lächeln, seinem ersten Lächeln an diesem Tag. Als Leiter der gesamten Detective Squad hätte er sich damit zufriedengeben können, die Ermittlungen seiner Teams zu überwachen und zu koordinieren, ohne sich selbst daran zu beteiligen. Aber alle im 17. Revier wussten, dass ihm das nicht lag. Er interessierte sich immer besonders für die Mordfälle. Dazu kam, dass dieser hier wahrscheinlich sein letzter sein würde.
Von der Straße drang jetzt das Lärmen der Zuschauer an der Marathonstrecke herauf. Kurz nach zehn hatte ein Kanonenschuss den Start des Laufs an der Verazzano-Brücke verkündet.
Reynolds wollte sich gerade aus seinem Schreibtischsessel erheben, als das Telefon klingelte. Die Uhr auf dem Schreibtisch zeigte 13.46 Uhr an. Er war wieder einmal spät dran. Er hatte Linda versprochen, um eins zu Hause zu sein. Als er am Morgen weggegangen war, hatte sie noch geschlafen, und er hatte sie nicht wecken wollen. Beim dritten Klingeln nahm er ab.
Aber es war nicht seine Frau.
Es war die Zentrale.
Auf einen Schlag musste er seine Pläne ändern.
»Wir müssen sofort los, Mike«, sagte Reynolds mit ernstem Gesicht, kaum dass er aufgelegt hatte.
»Wohin?«
»Zu dem Haus von gestern Abend, East 42nd Street.«
Bernardi stellte keine weiteren Fragen.
Reynolds riss seinen Trenchcoat vom Kleiderständer und warf ihn über, während sie hinausgingen.
Die Straßen quollen über von fröhlich gestimmten Menschen. Sie brüllten, feuerten an, reichten Getränke, pfiffen auf Trillerpfeifen oder irgendwelchen Tröten. Ein einziges Chaos. Der Fahrer bog von der East 51st Street in die Lexington Avenue ein. Obwohl
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