Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
Willen nicht als reiches Dorf bezeichnen, und seine Armut wurde von der Statistik bestätigt. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen betrug knapp fünftausend Euro: San Piero d’Aspromonte gehörte zu den ärmsten Gemeinden Italiens. Kein Kino oder sonstige Freizeitmöglichkeiten, kein Hotel, keine Einkaufsstraße mit Schaufenstern voll Markenware, nur ein, zwei Cafés, die Kirche, die Apotheke und die Carabinieri-Station.
Doch bekanntlich trügt der Schein oft. Was in gewisser Hinsicht durchaus beabsichtigt war. Die elende Fassade sollte vor Augen führen, dass es in diesen Gassen, wo schon um sechs Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt wurden, in diesen armseligen Bruchbuden keine Mafia geben konnte, höchstens ein bisschen gewöhnliche Kleinkriminalität.
An diesem Samstag, um zehn Uhr morgens, fand in der Hauptkirche die Totenmesse für die vier Ermordeten statt. Die Särge waren nach Erledigung aller Formalitäten den Familienangehörigen übergeben worden, die mit ihnen am Abend zuvor in Italien eingetroffen waren. Die Nachricht von ihrer Ankunft hatte sich in Windeseile in der ganzen Region verbreitet, und die Kirche war restlos überfüllt, da auch aus anderen Orten Kalabriens Besucher angereist waren, um den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Die Menschenmenge war so groß, dass manche draußen auf der Treppe oder der kleinen Piazza davor bleiben mussten. Im Mittelschiff waren die Mahagonisärge aufgereiht.
Die Frauen waren durchweg schwarz gekleidet und standen von den Männern getrennt in Gruppen zusammen. Keine trug Make-up, und fast alle hielten ein Stofftaschentuch in der Hand. Die älteren ließen den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten. Sie beteten halblaut. Auf ihren faltenzerfurchten Gesichtern spiegelte sich der Kummer. Ein kleiner Kreis umringte die Mütter, Schwestern und Frauen der Opfer. Es war nicht schwer zu erkennen, die die Mutter der Brüder Fedeli war – die sichtlich am meisten vom Gram gebeugte alte Frau unter den Trauernden. Auf einen Schlag hatte sie alle drei Söhne verloren. Jetzt blieb ihr nur noch ihre Tochter Angela, die jedoch in ein paar Tagen nach NewYork zurückkehren würde. Ihr einziger Trost würde es sein, jeden Tag, solange sie die Kraft dazu hatte, die Familienkapelle aufzusuchen, um dort eine Blume niederzulegen und zu beten.
Angela saß neben ihr auf der Bank in der ersten Reihe und streichelte ihre schmale Hand, während sie den Blick fest auf die Särge gerichtet hielt. Auch sie war ganz in Schwarz gekleidet, einschließlich des Seidenschals um ihren Hals, der die schmale Goldkette mit dem Madonnenbildchen sehen ließ. Sie trug keinen Trauerschleier um den Kopf wie die meisten Frauen, und auch ihr Verhalten unterschied sie von den anderen: Angela weinte nicht und war sehr gefasst. Ein geradezu widernatürliches Benehmen unter diesen Umständen. Kannte man jedoch die Bräuche und die Bedeutung der Gesten, so wusste man, dass sie es sein würde, die nun die Leitung der »Familie« übernahm.
Die Männer waren fast alle draußen vor der Kirche geblieben. Auf der Piazzetta stand auch Francesco Puglisi, genannt Ciccio Liccasapuni – ein Spitzname, den er sich schon als kleiner Junge erworben hatte, weil er immer ein sehr scharfes, Liccasapuni genanntes sizilianisches Messer mit sich herumtrug.
Der hagere kleine Mann mit dem vollen weißen Haar hatte die sechzig bereits deutlich überschritten. Aus seinem runzeligen, olivfarbenen Gesicht stachen blaue, in Tränensäcke eingebettete Augen hervor. Anlässlich der Beerdigung trug er einen schwarzen Breitcordanzug mit einer Weste, aus deren Tasche eine goldene Uhrkette hing, und auf dem Kopf die traditionelle Wollmütze, ebenfalls schwarz. In der Rechten hielt er einen Stock, mit dem er sich auf den schwachen Beinen hielt.
Francesco Puglisi, Don Ciccio, war der unbestrittene Capoder ’Ndrina von San Piero d’Aspromonte. Ein Ring von Getreuen umgab ihn, und nacheinander bezeugten ihm alle anwesenden Männer ihre Hochachtung, als wäre er ein Sultan.
Als die Menge sich langsam zerstreute, kam Antonio Russo auf ihn zu, ein sehr ehrgeiziger, stets elegant gekleideter Boss. An diesem Tag hatte er einen anthrazitfarbenen Anzug mit einem weißen Hemd und einer farblich auf den Anzug abgestimmten Seidenkrawatte an. Die beiden entfernten sich ein paar Meter von den anderen.
»Don Ciccio, bitte nehmt mein tief empfundenes Beileid entgegen«, begann Russo.
»Danke, auch dafür, dass Ihr gekommen seid,
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