Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
Lesebrille mit Goldgestell auf und begann, die vorläufigenBerichte zu den Autopsien der sechs Opfer sowie das Ergebnis der ballistischen Untersuchung zu lesen.
Wie sie schon vermutet hatten, waren Rocco Fedeli, seine Gäste und seine Hausangestellten etwa um dieselbe Zeit getötet worden wie der Portier. Das bezeugten die bei allen festgestellte Muskelstarre am ganzen Körper (Rigor mortis) , die Stabilisierung der Totenflecken (Livor mortis) und das Fehlen von Nahrung im Magen, Zwölffingerdarm und Leerdarm.
Doch die Befunde sagten noch etwas anderes aus: An der Leiche des Puerto Ricaners war ein Schädeltrauma diagnostiziert worden, das nicht tödlich gewesen und vermutlich mit einem Pistolenknauf zugefügt worden war. Die Mörder hatten ihn also zusammengeschlagen, sobald er ihnen die Tür aufmachte, und ihn erst später erschossen, wahrscheinlich ehe sie die Wohnung verließen. Aus der ballistischen Untersuchung gingen aussagekräftige Daten über die Geschossbahnen hervor: Die Treffer bei den anderen Opfern stammten von mindestens zwei Schützen, die von gegenüberliegenden Seiten gefeuert hatten. Danach waren die Täter näher herangetreten und hatten die finalen Schüsse abgegeben.
Der Ablauf war nun klar. Moore nahm ein Blatt Papier und notierte:
Die Killer, mindestens drei Personen, betreten das Haus. Einer bleibt in der Portiersloge zurück, um den Portier in Schach zu halten bzw. zu töten. Die anderen fahren ins 19. Stockwerk hinauf. Sie brauchen die Wohnungstür nicht aufzubrechen, weil ihnen geöffnet wird, da sie bekannt sind oder harmlos wirken. Der Hausangestellte lässt sie herein und wird mit dem Knauf einer Pistole bewusstlos geschlagen. Anschlie ßend gehen sie ins Speisezimmer und überraschen ihre Opfer, die noch nicht mit dem Essen angefangen haben. Sie töten sie, indem sie zuerst aus unterschiedlichen Positionen schießen und dann aus der Nähe die tödlichen Schüsse abfeuern. Danach gehen sie ins Arbeitszimmer. Dort hält sich Rocco Fedeli auf, der, ehe er ebenfalls getötet wird, noch Zeit hat, einen Pistolenschuss abzugeben. Die Täter öffnen den Safe im Bücherschrank (oder finden ihn offen vor?), nehmen den Inhalt an sich und gehen hinaus. Ehe sie die Wohnung verlassen, erschießen sie auch den Butler, weil der sie erkannt hat oder ein möglicher Augenzeuge wäre.
Moore hielt inne. Was hatte der Unbekannte geschrieben? »Analysieren Sie das Material, das in Fedelis Wohnung gefunden wurde; auch Fotos können Ihnen viel sagen.« Er musste den Tatort persönlich in Augenschein nehmen. Er rief Lieutenant Reynolds an und vereinbarte einen Termin: Sie würden sich im 19. Stock treffen.
Ein Streifenbeamter entfernte die Siegel, und sie gingen hinein. In der Wohnung hing immer noch der Geruch des Todes.
Moore begann, die Zimmer zu inspizieren, gefolgt von Reynolds. Auf dem Fußboden im Esszimmer und Arbeitszimmer waren noch die Kreideumrisse der Leichen zu sehen. Er konzentrierte sich vor allem auf die Fotos und die Bilder und betrachtete sie nacheinander. Es waren alles Originalgemälde mit Signaturen am unteren rechten Rand. Nur ein Bild, das eine kleine Kirche in den Bergen darstellte, war nicht signiert.
»Das ist das einzige ohne Signatur«, bemerkte er laut.
Reynolds nahm das Foto vom Schreibtisch, das Rocco Fedeli neben einer Kapelle zeigte, und hielt es ihm hin: »Es ist dieselbe Kapelle wie auf dem Foto, sehen Sie?«
»Ja, sieht so aus. Warum dieses Interesse an einer Kirche? Seltsam, diese Italiener …«, murmelte Moore.
»Laut Aussage der Nichte handelt es sich um eine Wallfahrtskirche mit einer Madonna, die ihr Onkel sehr verehrt hat, so wie auch die übrige Familie. Sie muss in Italien stehen, irgendwo in Kalabrien«, erläuterte Reynolds.
Moore schien eine Weile nachzudenken, dann ordnete er an, sowohl das Bild als auch das Foto zu beschlagnahmen. »Die nehmen wir mit«, sagte er, an Reynolds gewandt.
Samstag, 8. November
San Piero d’ Aspromonte, kaum mehr als tausend Seelen mit einem hohen Anteil an ’Ndrangheta-Getreuen und Arbeitslosen, unterschied sich nicht sehr von vielen anderen kalabrischen Dörfern. Es lag auf der dem Ionischen Meer zugewandten Seite der Provinz Reggio Calabria, quasi am Hang des Aspromonte, eines der höchsten Bergmassive der Region, das sich bis zur Spitze des Stiefels erstreckt.
Baufällige Häuser, allem Anschein nach seit Langem verlassen. Keine Hausnummern. Die Straßen eng und reparaturbedürftig. Man konnte es beim besten
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