Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
die ihm, wie immer nach einem langen Arbeitstag, die Luft abzuschnüren schien.
Sie setzten sich wieder aufs Sofa, dicht nebeneinander.
Petra genoss ihre Torte.
»Weißt du, was ich glaube, Liebes?«, sagte er, während er einen Whisky der Marke Slyrs schlürfte, das Geschenk eines lieben deutschen Freundes und eine bayerische Spezialität, die nur in geringen Mengen hergestellt wurde. Er genehmigte ihn sich nur zu besonderen Anlässen.
Und dies war ein solcher.
»Was, Michele?«, fragte Petra, die wie immer ein offenes Ohr für ihn hatte.
»Ich fürchte, dass ich nach Kalabrien fahren muss.«
Ihre Hand mit der voll beladenen Kuchengabel erstarrte in der Luft.
»Waaas?«
Petra hatte alles in allem gute Erinnerungen an die Kalabresen, vor allem an ihre damaligen Hausnachbarn. Sie dachte oft an sie und sah wieder vor sich, wie sie an dem Morgen, als sie und Michele abgereist waren, mit Tränen in den Augen am Fenster standen. Dennoch war sie davon überzeugt, dass es für ihren Mann gefährlich war, in diese Provinz zurückzukehren, an diese Orte, an denen er schlimme Momente durchlebt hatte. Und sie mit ihm.
Kalabrien war, ebenso wie Sizilien, landschaftlich bezaubernd, ja faszinierend, eine herrliche Gegend, um sich dort niederzulassen, aber nicht für einen Polizisten, der sich stets an vorderster Front bewegte. »Wenn du Lehrer wärst, hätten wir dort bleiben können«, sagte sie jedes Mal, sobald sie auf das Thema zu sprechen kamen.
»Waaas?«, wiederholte sie jetzt, nachdem sie ihren Teller abgestellt hatte.
»Wir haben gemeinsame Ermittlungen mit den Amerikanern eingeleitet, und es kann sein, dass ich dort runterfahren muss, um sie zu koordinieren.«
Petra sagte nichts weiter dazu und fragte nicht nach Einzelheiten. Sie war es gewohnt, ihm keine Fragen über seine Arbeit zu stellen, und hatte sich in all den Jahren immer an diese unausgesprochene Regel gehalten. Dennoch konnte sie ihre Besorgnis nicht verbergen.
Vasco Rossis Musik erfüllte immer noch den Raum.
»Aber Michele, wenn du mit den Amerikanern zusammenarbeitest, warum fliegst du dann nicht nach Amerika?«, wollte sie kurz darauf wissen.
»Das ist ebenfalls nicht ausgeschlossen. Könnte durchaus sein, dass ich auch noch nach New York fliegen muss. Dann will ich aber, dass du mitkommst.«
»Warum?«
»Weil ich nicht möchte, dass es dir wieder so geht wie damals, als ich in Südamerika war.«
Petra kniff die Augen zusammen, als versuchte sie sich zu erinnern. Ja, diese furchtbare Dienstreise, und sie ganz allein zu Hause, wo sie vor Angst und Sorge fast verging!
»Könnte ich das denn?«, wagte sie zu fragen.
»Natürlich. Du willst doch nicht, dass es so wird wie damals in Peru, als das Telefon in meinem Hotelzimmer ohneUnterlass klingelte, weil du dir solche Sorgen gemacht hast. Nein, diesmal kommst du mit!«
»Einverstanden, ich verspreche es dir, immer vorausgesetzt, dass mein Chef mir freigibt. Aber dafür musst du mir versprechen, nicht nach Kalabrien zu fahren. Da hätte ich zu viel Angst.«
»Wenn es sich vermeiden lässt, fahre ich nicht, versprochen.«
Petra sah ihren Mann an, beugte sich zu ihm und küsste ihn lange und leidenschaftlich. Ihre grünen Augen leuchteten dabei noch lebhafter als gewöhnlich. Dann griff sie wieder zu ihrem Kuchenteller. Michele trank weiter seinen Whisky, zündete sich eine halbe Toscano an und dachte nach.
Was ihm zu schaffen machte, war dieses neue Gesicht der ’Ndrangheta, ihre Internationalisierung, durch die sie sich so sehr von ihren Anfängen in den frühen Achtzigerjahren unterschied.
Unterdessen sang Vasco Rossi Siamo soli :
Ah! Non ci posso credere!
[…]
Eh, tutto può succedere …
Ora qui … siamo soli … siamo soli … siamo soli … siamo soli …
Vivere insieme a me …
[…]
Non è mica semplice …
Ah, ich kann es nicht glauben!
[…]
Alles Mögliche kann passieren …
Hier jetzt … sind wir allein … sind wir allein … sind wir allein … sind wir allein …
Mit mir zusammenzuleben …
[…]
Ist wirklich nicht einfach …
Als er den letzten Schluck getrunken hatte, stellte er sein Glas ab und drückte die halb gerauchte Toscano im Aschenbecher aus. Dann stand er auf und ging ins Schlafzimmer, wohin ihm Petra kurz darauf folgte.
In dieser Nacht musste Ferrara immer wieder an den von Carracci geäußerten Vorbehalt denken. Er erkannte darin dieselben Anzeichen mangelnder Unterstützung und Zuverlässigkeit, die
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