Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
der Kollege und der Polizeichef schon an den Tag gelegt hatten, als er noch die Squadra Mobile von Florenz leitete. Vor allem Armando Guaschelli traute er nicht. Der Anblick dieses Mannes mit dem Haifischlächeln hatte sich Ferrara bei ihrer letzten persönlichen Begegnung im Ministerium tief eingeprägt. Es war das Bild eines hinterlistigen, rachsüchtigen und engherzigen Menschen.
Irgendwann fiel er endlich in einen tiefen Schlaf, einen Arm um seine Frau gelegt. Aber er träumte nicht.
In dieser Nacht ließ ihn der Gott Hermes in Frieden.
Antonio Russo hatte von seinem Vater, der vor ein paar Jahren gestorben war, das Zepter der Macht über die nach dem Ort benannte ’Ndrina von Castellanza geerbt, einer kleinen Gemeinde an der tyrrhenischen Küste der Provinz Reggio Calabria. Er war noch keine vierzig Jahre alt und galt doch schon bei allen als ein neuer, aufstrebender Boss vonscharfer Intelligenz und knallhartem Durchsetzungsvermögen. Er war durchschnittlich groß, von normaler Statur und hatte lichtes, kastanienbraunes Haar.
An diesem Abend stieg Antonio Russo in seinen schweren Mercedes mit dem Catania-Kennzeichen, der im Innenhof seines Gutshauses parkte. Diese ehemalige Ölmühle war ein großes Steingebäude aus dem 18. Jahrhundert, das über einen breiten Laubengang verfügte. Es gab zwei Stockwerke. Das obere war vollständig saniert worden und beherbergte die Schlafzimmer mit den angrenzenden Bädern. Das untere dagegen hatte man im unrenovierten Zustand belassen. Dort befanden sich ein großer Salon und eine geräumige Küche. Daneben lagen die Vorratskammern, und ringsherum erstreckten sich Oliven- und Zitrushaine. An der rechten Seite befand sich eine Pferdekoppel. Das ganze Anwesen wurde von hochauflösenden Kameras überwacht.
Er hatte einen kleinen Koffer dabei, den er nun öffnete. Darin war ein nachgebautes Satellitentelefon, das er von einem jungen Ingenieur und Elektronikfachmann aus Mailand hatte konstruieren lassen. Er begann die übliche Prozedur, indem er einen Code eingab. Als auf dem Display seine persönliche Kennnummer erschien, drückte er die Rautetaste und wählte die Nummer, die er anrufen wollte. Es war die eines ausländischen Mobiltelefons, weshalb er abschließend die Sterntaste drückte. Nach ein paar Klingelzeichen meldete sich jemand am anderen Ende.
»Ciao, ’Ntoni, wie geht’s?«
»Eh, nicht so gut.«
»Ah!«
»Ziemlich schlecht eigentlich, und dir?«
»Genauso, ich hab’s gehört.«
»Ah!«
»Hör mal, die wollen hier Geld sehen, ’Ntoni.«
»Ich weiß, niemand gibt mehr was umsonst.«
»’Ntoni, das ist ein ernstes Problem.«
»Schon gut. Aber ich konnte doch nicht ahnen … Verstehst du das nicht?«
»Ich schon, aber da sind eben auch noch die anderen. Das Problem, das da aufgetreten ist …«
»Ja, ich weiß, ich weiß.«
»Wir müssen uns treffen, ’Ntoni.«
»Ich werde jemanden schicken.«
»Nein, wir beide müssen uns sehen«, sagte der andere unnachgiebig.
»Ich kann nicht zu dir kommen, du weißt, warum.«
»Dann treffen wir uns eben in Spanien, am gewohnten Ort.«
»Einverstanden. Wann?«
»Am Dienstagabend. Um elf.«
»Gut.«
»Bring mit, was nötig ist, ’Ntoni.«
»Mach ich.«
»Ciao, ’Ntoni.«
»Ciao.«
Sie legten beide gleichzeitig auf.
Es war fünf Minuten vor Mitternacht.
Sonntag, 9. November
Don Ciccio Puglisi und seine Frau saßen im Esszimmer.
Mitten auf dem Tisch, auf dem eine Decke aus flandrischem Leinen mit Hohlsaumstickerei lag, ein Aussteuerstück, standen zwei Kristallkaraffen: eine mit klarem Quellwasser, die andere mit Rotwein. Die Tafel war, wie es sich gehörte, mit Gläsern, Tellern und Besteck gedeckt. Und auf einem Silbertablett stand, stolz zur Schau gestellt, das gute Kaffeeservice aus feinstem Porzellan.
Ihr Haus lag am Rande des Dorfes. Ein großzügiges, einstöckiges Landhaus, nach außen hin bescheiden. Es war von Olivenhainen und einem Garten umgeben. In einem Teil des Gartens wurden je nach Saison verschiedene Obst- und Gemüsesorten angebaut. Die nächsten Nachbarhäuser standen rund hundert Meter weit entfernt, was jedoch die Sicherheit nicht beeinträchtigte. Ganz im Gegenteil. In der Nähe wohnten die treuesten Mitglieder der ’Ndrina, außerdem natürlich enge und entfernte Verwandte, die stets die Augen und Ohren offen hielten.
An diesem Sonntag waren sie nicht allein.
Der Bürgermeister, Franco Giardina, und seine Frau aßen mit ihnen zu Mittag. Zur Feier des Tages wurde nur
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