Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
Haare noch vollkommen schwarz, stand er an der Spitze des Kartells von Cali, das Kokain nach Europa exportierte. Er war unvorstellbar reich. Sein Leben war von starken Emotionen und den unterschiedlichsten Erfahrungen geprägt. Er hatte nie nachgegeben, war nie in sich gegangen oder hatte über »das Wesen« der Dinge nachgedacht. Sobald er den Freund hereinkommensah, erhob er sich und ging ihm entgegen. Die beiden umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf die Schulter, als hätten sie sich lange nicht gesehen.
»Ist Pedro nicht mitgekommen?«, fragte Russo.
Pedro war Diegos jüngerer Bruder. Beim letzten Treffen war auch er dabei gewesen.
»Nein, ’Ntoni, diesmal bin ich allein. Pedro ist in Cali geblieben. Er kann mich nicht immer begleiten, einer muss schließlich aufpassen, was die Jungs so treiben, wenn du verstehst, was ich meine.« Er grinste.
»Na klar.«
Der kalabrische Boss grinste ebenfalls. Er wusste, dass Diego eine regelrechte Armee befehligte, ausgerüstet mit schnellen Motorbooten, Waffen … Wer hätte ihn besser vertreten können als sein eigener Bruder?
Unterdessen kam ein Kellner mit zwei Gläsern Sherry an ihren Tisch.
»Wir nehmen eine Auswahl an Tapas«, bestellten die beiden Männer.
Die in ganz Spanien verbreiteten pikanten Häppchen aus Fisch, Fleisch oder Gemüse waren ein leichtes Abendessen.
»Eine Karaffe vom Hauswein?«, fragte der Kellner.
»Ja, gern.«
Sie wussten, dass er hier ausgezeichnet war.
»Wir haben einen großen Verlust erlitten«, begann Antonio Russo dann ohne große Vorrede. »Fast hundert Kilo sind feucht geworden, und der größte Teil ist sogar richtig durchnässt. Meine Geldgeber wollen nun deshalb nicht den vollen vereinbarten Preis bezahlen, was für mich ein großes Problem darstellt.«
Diegos Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Seine Miene wurde finster. Er hatte schon von dem unangenehmen Zwischenfall erfahren, aber jetzt musste übers Geld geredet werden. Auch deswegen kamen sie hier zusammen.
»Das war eure Schuld, nicht unsere«, erwiderte der Kolumbianer nach einem Augenblick gespannten Schweigens. Dabei ballte er die Fäuste, öffnete sie wieder und schlug mit der flachen Hand mehrmals auf den Tisch. Sein gepresster, wütender Ton war neu für Antonio Russo. Noch nie hatte er dieses Gesicht so zornesrot gesehen. Offenbar wollte Diego deutlich machen, dass er keinerlei Verantwortung für das Vorgefallene trug.
»Nein, es war nicht unsere Schuld, Diego.«
»Waaas? Was soll der Unsinn? Da irrst du dich aber!«
»Diego, allem Anschein nach war der Stoff nicht ordentlich eingeschweißt, bevor er an der üblichen Stelle verstaut wurde.«
»Das ist unmöglich. Meine Männer sind Profis. Sie machen keine Fehler.«
»Aber das Koks ist durchnässt angekommen. Das musst du mir glauben.«
Beide verstummten plötzlich, weil der Kellner an den Tisch trat. Sie tranken einen Schluck Sherry und musterten sich wortlos.
Als der Kellner sich entfernt hatte, nahmen sie ihren Wortwechsel wieder auf.
»Eure Taucher waren wahrscheinlich nicht erfahren genug«, sagte Diego.
Antonio Russo schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Na komm, ’Ntoni, lass uns erst mal essen«, forderte Diego ihn begütigend auf.
Es wurde erneut still an ihrem Tisch, während das Lokal sich zunehmend füllte.
»Okay, ich hätte einen Vorschlag«, verkündete der Kolumbianer schließlich.
»Und der wäre?«
»Wir schicken zwei von unseren Chemikern nach Kalabrien, um den Stoff zu retten. Mehr kann ich nicht tun, mehr kannst du nicht von mir verlangen.«
Das war sein letztes Wort.
Und das war auch Antonio Russo klar.
»Und wie wollen sie ihn retten?«
»Indem sie ihn neu behandeln.«
»Wie denn?«
»Mit Mikrowellenherden, Acetonfiltern und so weiter. Sie verwandeln ihn praktisch in freie Kokainbase, sogenannte Freebase, zurück und dann wieder in Kokainhydrochlorid. Die machen das schon, ’Ntoni, keine Sorge. Aber ihr müsst bezahlen. Wir können euch keinen Preisnachlass gewähren. Das ist die unabdingbare Voraussetzung, wenn wir unsere Geschäftsbeziehungen fortsetzen wollen.« Sein Ton war wieder hart geworden.
Antonio Russo schien kurz nachzudenken. Dann sagte er: »Wenn sie es tatsächlich wiederherstellen, wird es keine Probleme mit der Bezahlung geben. Aber in Zukunft muss besser aufgepasst werden.«
»Mir brauchst du das nicht zu sagen, ’Ntoni.«
»Ich sage es beiden Seiten.«
Daraufhin erklärte sich der kalabrische Boss einverstanden und
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